Der Gang vor die Hunde (German Edition)
verfügbar war; und das waren eben Ralph Zucker, seine akademischen Lehrer
und
offensichtlich Walter Benjamin. Der Roman ist angefüllt mit Details aus Kästners eigenem Leben, um die es allerdings nicht geht; ›kein Detail, das nicht erlebt, kein Detail so,
wie
erlebt‹, scheint seine Maxime gewesen zu sein.
Zur politischen und satirischen Dimension des Romans
Auch wenn Fabian einiges mit seinem Schöpfer gemein hat, geht jener auf Distanz zu seiner Figur, am deutlichsten allerdings außerhalb des Romantextes. In seinem
Nachwort für die Sittenrichter
erläutert Kästner, der Verfasser des
Fabian
sei ein »Moralist«, der »eine einzige Hoffnung« sehe: »Er sieht, daß die Zeitgenossen, störrisch wie die Esel, rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe Anderer vor ihm und außer ihm: Achtung! Beim Absturz linke Hand am linken Griff!« (Anhang 1) Das 1950 geschriebene Vorwort (Anhang 4 ) argumentiert ähnlich: Der Roman sei eine Warnung gewesen »vor dem Abgrund (…), dem sich Deutschland und damit Europa näherten!«
Fabian
schildere zwar »großstädtische Zustände von damals«, sei aber »kein Poesie- und Fotografiealbum, sondern eine Satire. Es beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt.« Es fällt aus der zeitlichen Distanz vielleicht schwerer, die Übertreibungen wahrzunehmen, obwohl die Metaphern, die als Titel-Überlegungen existierten, alle mehr oder weniger in den Roman eingegangen sind: Von »Sodom und Gomorrha« spricht Fabian, als er Cornelia Battenberg kennenlernt; das Atelier Ruth Reiters ist ein »Saustall«; die Figuren leben in einem »Irrenhaus«, in dem es »Gaunerei«, Elend, Unzucht und »Untergang« gibt. Das krasse
Blinddarm-
Kapitel blieb den zeitgenössischen Lesern erst einmal vorenthalten, ebenso die zusätzlichen Szenen um Pornografie und Gewalt. Der vom Verlag vorgeschlagene Titel
Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
war zum Verständnis der satirischen Haltung wenig hilfreich, da Kästner sich schließlich selbst wiederholt als Moralist bezeichnet hat, also als Beobachter der menschlichen Gesellschaft. Das wichtigste Distanzierungssignal, das auch für die Leser der Erstausgabe erhalten geblieben ist, war der irritierende Schluss des Romans und die Überschrift des letzten Kapitels:
Lernt schwimmen!
, eine Anweisung, die die Erzählfiktion durchbricht und sich direkt an das Publikum wendet. Fabian ist keine recht lebensfähige Figur, sollte das heißen; macht’s anders, lebt anders als er!
Diese Aufforderung mag metaphorisch-unkonkret sein, das macht jedoch eine Qualität des Romans aus: Kästner zeigt Fabians Orientierungslosigkeit und kritisiert sie, ohne eine Lösung anzubieten. Der Romancier wusste nur, dass sich etwas ändern musste, aber er wusste nicht, was. Dass er das offen zugegeben hat, spricht für ihn. Vielleicht ist sein politisches Programm aber doch gar nicht so undeutlich und unterscheidet sich von dem Bild, das Walter Benjamin von Kästners Gedichten entworfen hat. Kästner war zwar nie Mitglied einer Partei, und konkretes politisches Engagement scheint auch kein Weg für Fabian zu sein; der ›ungebundene‹ Antimilitarismus und Pazifismus der Gedichte findet sich jedoch auch im Roman wieder, besonders in Fabians Albtraum (vierzehntes Kapitel), den Dirk Walter überzeugend als Warnung vor einem Bürgerkrieg, vor einer »gewaltsamen Änderung der Gesellschaftsverhältnisse« interpretiert hat. [50] Fabian sieht hier, wie Polizisten zu Straßenunruhen gefahren werden, »Gewehr bei Fuß, in stummer Kolonne« (sechzehntes Kapitel); nur in
Der Gang vor die Hunde
stehen sie Gewehr bei Fuß, in den veröffentlichten Versionen stehen sie lediglich »entschlossen«. Die neuen Konflikte rufen in Fabian Erinnerungen an seine Soldatenzeit und sein »krankes Herz« wach, »eine Kinderei« (sechstes Kapitel). Und es wird von ungleich härter betroffenen Opfern berichtet: »In der Provinz zerstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer mit furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein, durch dünne Glasröhren, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte lachen und sprechen und schreien können.« (sechstes Kapitel) Diese
Weitere Kostenlose Bücher