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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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aussichtslos ist. Es ist zu viel verlangt. Das Schicksal eines jeden Menschen ist es, mit Mutter und Vater als Ganzem der Realität anzufangen und dann auf die Reise in die große weite Welt hinaus aufbrechen zu müssen oder wenigstens zu erkennen, was jenseits der Eltern überhaupt existiert. Das genaue Wesen des Kampfs kann im Einzelfall verschieden aussehen, von verschiedenen sozialen Determinanten abhängen, genetischen Umständen, dem Zufall usw., aber das Schicksal ist universell.«
    »Hört sich ziemlich freudianisch an.«
    Lewis Starling, der unreife Posthumanist unter den Medienwissenschaftlern am Baginstock. Cicero war Doktorvater seiner jargongespickten Dissertation, die sich um Suchmaschinen, Turing-Tests, Zombies und Infektion drehte. Starling sprach »freudianisch« aus, als müsste er sich den Mund danach mit Seife auswaschen, und seine Verachtung ließ die kritische Terminologie seines Mentors zur Banalität kollabieren. Wäre er entsprechend disponiert gewesen, hätte Cicero jetzt Heidegger oder Gramsci auffahren können, um ihn zu maßregeln. Aber er durfte das weder persönlich nehmen noch Zeit darauf verschwenden.Stattdessen sagte er: »Freud war zweifellos ein wichtiger Akteur, was die Frage der Vorfahren angeht. Entscheidend ist doch: Welcher Theoretiker mit einem Interesse an den sogenannten ›Affekten‹ wäre das nicht? Denkt an den Körper. Die ersten ernstzunehmenden Interpretationsversuche aller Denker laufen doch immer auf dasselbe hinaus: die Alten alt aussehen lassen. So die Schiene Mom und Dad: Eine kritische Betrachtung. Die Frage ist nur, ob es auch unser letzter sein muss.«
    »Ich verstehe nicht ganz, was wir hier eigentlich diskutieren sollen.« Das kam von Mister Sagen Sie mir einfach, was ich machen muss, um in diesem Seminar ein A zu kriegen  – den Namen des jungen Pedanten hatte Cicero verdrängt. Doch die charakteristische Bitte des Jungen um Vereinfachung war ausnahmsweise willkommen, denn Cicero war noch alles andere als zufrieden. Hatte den ungestillten Drang, ihre Ausflüchte genauso zu vernichten wie seine eigenen. »Passt auf, Jungen und Mädchen, junge Erwachsene, mir geht es um das Projekt, mit dem wir immer schon beschäftigt sind und das wir nie abschließen werden, das Projekt nämlich, unseren Geist aus dem Würgegriff der grundlegenden Falschheiten zu lösen, die wir Alltag nennen. Legt die Stifte weg, hört auf, jedes meiner Worte mitzuschreiben. Reden wir über eure Mütter, ihr Wichser.«
    Na gut. Mindestens einen erlaubte sich Cicero in der Regel. Vereinzeltes Lachen erteilte ihm Absolution. Aber jetzt bremste er sich lieber ein wenig. »Denken wir mal an das, was Christopher Bollas als ›das ungedachte Bekannte‹ auf den Begriff gebracht hat – die Einsichten, deren vollständige Artikulation wir genau darum verweigern, weil sie uns in jeder einzelnen Sekunde viel zu präsent sind. Sagen Sie hier etwas, das Sie über Ihre Mutter wissen, was Sie aber noch nie laut ausgesprochen haben. Es muss gar nichts Weltbewegendes sein. Mr. Starling, haben Sie vielleicht Lust, die Debatte zu eröffnen?«
    »Ich bin mir nicht sicher. Soll ich beispielsweise sagen, dass ich gesehen habe, wie sich meine Mutter im Internet Pornos anschaut? Womit ich nicht sagen will, dass ich das gesehen habe; ich hab sowas nämlich nicht gesehen.«
    »Niedlich, Mr. Starling.« Weitere verkniffene Lacher um den Tisch herum. Dieser Akt der Renitenz hatte Lewis Starling mehr abverlangt als vorher der Seitenhieb gegen den Freudianismus. Er hatte auch Cicero mehr gekostet, aber das versuchte der zu ignorieren. »Meldet sich vielleicht jemand anderes als erster?«
    Nichts als ausdruckslose Gesichter. Ein Mädchen verließ den Raum. Pinkelpause, Protest oder einfach unentschlüsselbares Verschwinden? Cicero konnte von Glück reden, wenn er das je erfuhr, außer er fand nach dem Seminar heraus, dass sie ihm eine Beschwerde an die Bürotür gepinnt hatte. Er warf Yasmin Durant einen Blick zu, aber seine Ministrantin hatte die Augen gesenkt, hatte Schwierigkeiten, Cicero an seinen Scheidewegen zu folgen. Das Schweigen war vielleicht nicht ohrenbetäubend, aber doch unbelebt, ein Bäckerdutzend Hirne in Vakuumverpackung. Cicero merkte, dass er an der Glasfläche seines eigenen Bergs abrutschte, den er ohne Steigeisen oder ähnliches in Angriff genommen hatte. Er vermied es, Sergius Gogan anzusehen.
    Die Kinder – er hatte sie in wenigen mühelosen Gesten auf Kinder reduziert und eine schwere

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