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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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verborgener Teil von ihm empfand immer noch unweigerlich so etwas wie Entsetzen bei der Aussicht auf die bevorstehenden fünfundsiebzig Minuten, als hätte er solche Zeiträume nicht schon tausendmal erfolgreich zerstört. Eigentlich war es der Kontemplation des kalten Meers vor dem Eintauchen gar nicht so unähnlich, bevor er sich dann losriss und sich sagte, dass er dort hingehörte, sich nicht auf lösen würde, etwas war, womit das verdammte Meer eben fertig werden musste. Letztlich lehrte er auch im Seminarraum durch bloßes Existieren. Cicero war schlichtweg als Exponat, als Objekt der Kontemplation angemessen, und seit einiger Zeit hielt er auch die Produktion unbehaglichen Schweigens im Seminarraum für ein alternatives pädagogisches Hilfsmittel. Immer weniger sagen. Stoß sie in den Abgrund des Unaussprechlichen, wo die Wahrheit verborgen liegt, wo die Puppen tanzen. Das konnte er sich so sagen, aber dann kamen die Worte immer als brutale Sturmflut. Er zerschlug ihre Körper mit seiner Sprache, und immer waren die fünfundsiebzig Minuten im Handumdrehen zerstört. Die Crème de la Crème der Privatschulen des Landes humpelte hinaus, von seinem Ansturm wieder einmal verkrüppelt. Ciceros Schweigen war meist theoretischer Natur. Scheiße, das Leben war zu kurz, um sie zu verschonen.
    »Ihnen wird aufgefallen sein, dass wir heute einen Gast haben. Sergius Gogan – willkommen, Sergius, bei ›Ekel und Nähe‹. Das hier sind meine Besten und Hellsten. Sergius ist kein Spion der Verwaltung, Leute, also bleibt locker. Einfach ein interessierter Beobachter. So. Ich möchte mit einem Abschnitt von Kolnai anfangen. S. 43, falls Sie mitlesen wollen. So vertritt denn ›ungeordnete Sexualität‹ für den Ekelsinn das ungeordnet, ›unsauber‹, ›feucht‹ quirlende, vital ›ungesunde‹ Lebensplus überhaupt. Allein auch Geistigkeit am falschen Orte mag nach unserembesten Wissen etwas wie Ekel hervorrufen. Es ist etwas Ekelhaftes daran, wenn alles auf Erden mit Grübelei, ›Gedenke‹, Rechnerei und Haarspalterei beklebt wird. Ich überspringe hier ein paar Zeilen. Es besteht hier nur die Gefahr, daß das gedankliche Verweilen und Wühlen selbst allzusehr zu einem Stück Geschlechtsleben wird, kraft der ungeheueren Abwandlungsund Amalgamierungsfähigkeiten des Sexualtriebs … Zur Ekelwirkung trägt bei, daß es sich hier um einen wesenhaft ›fortschreitenden‹, ›infektiösen‹ Vorgang handelt, etwas auch im formalen Sinne ›Haltloses‹, alles ›Angreifendes‹, Fäulnishaftes: und dabei doch Ungerichtetes, Undynamisches, im eigenen Dunstkreis Strudelndes .«
    Cicero ließ einen Augenblick bedeutungsschwangeren Schweigens verstreichen.
    »Möchte jemand seinen Senf dazugeben? Zu früh für Sie? Na, lassen Sie sich nicht zu lange Zeit. Wir behalten die Passage mal im Hinterkopf.« Cicero gab dem Studenten, der für die anderen ein zehnminütiges Impulsreferat vorbereitet hatte, das Einsatzzeichen und lehnte sich zurück. Der Text, um den es ging, stellte eine Untersuchung vor, bei der sich Freiwillige ihren Gefühlen des Ekels stellen sollten, wenn sie gebeten wurden, Wollpullover anzuziehen, die angeblich durch reale oder moralische Verderbtheit besudelt waren. Cicero unterbrach den Studenten, als dessen Paraphrase unnötig weitschweifig wurde. »Sehr gut, vielen Dank, Mr. Seligman. Also, was soll das Ganze? Überrascht es hier jemanden, dass die Probanden keinen Pullover anziehen wollten, den sie mit Kakerlaken oder Tuberkulose assoziierten, selbst wenn er unter Dampf gereinigt, ja sogar ausgekocht worden war? Gibt es hier jemanden, der diese Kontaminationsphobie nicht nachempfinden kann?«
    Schweigen.
    »Was ist mit dem Pullover des Mörders? Entscheidend ist doch: Ist das eine andere Reaktion? Den Pullover, den angeblich ein Mörder getragen hatte, wollten ja noch weniger anziehen.«
    »Das ist doch verworren.« Wieder Yasmin. »Man kann moralischen Abscheu doch nicht untersuchen, als wäre es dasselbe wie die Angst vor einer Ansteckung.«
    »Gut. Vielleicht ist es verworren. Aber wenn, wer hat es dann verwirrt?«
    Nichts.
    »Mr. Seligmann, ich hatte gehofft, Sie würden das Kleidungsstück erwähnen, das auf der Liste der abgelehnten Pullover ganz oben stand – der, dem keiner nahe kommen wollte, noch vor dem von der Scheiße gereinigten Pullover und so.« Sein zweites Scheiße. Bestimmte Vokabeln im Seminar hakte Cicero halbbewusst ab.
    »Ja, äh, die Forscher fanden heraus, dass der Abscheu bei

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