Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
waren. Das Lazarettethos, das heraufbeschworen wurde, sobald jemand die Schwelle zu den dunklen, sauberen und aufgeräumten Zimmern betrat, war Funktion einer Haltung der Triage und galt dem permanenten Notfall, am Leben zu sein.
Die Sensibilität und die Sympathien des Kindes, das diesseits der Schwelle zum ersten Bewusstsein erwachte, waren an den Blick auf sie gekoppelt, die Krankenschwester-und-Patientin, die Frau, die durch die dunklen Zimmer wehte, und nicht an den Lieutenant, der düster von seinem Dienst brummelte. Denn das Schlachtfeld da draußen war nur eine Angelegenheit von Gerüchten und Mutmaßungen, vonInterpretationen kleinster Hinweise, von Douglas Lookins’ bitteren Reportagefragmenten, ein Aufflackern, das von seiner Frau üblicherweise in Form von Tellern mit Essen und dem Anknipsen des Fernsehers gelöscht wurde, von ihren Besänftigungen und Schweigegeboten, dem nicht vor dem Jungen, von ihren nach Aufmerksamkeit heischenden Ohnmachtsanfällen, allen möglichen Alltäglichkeiten, die einem ernsthaften Gespräch vorbeugten.
Die Unpässlichkeiten kamen später, mit ihnen einher gingen unzulängliche rituelle Heilmittel, halb geleerte Flaschen Chininwasser, von einem kenntnisreichen Cousin unten im Süden empfohlene Bitterwasser, in vampirhafter Aussperrung der Sonne herabgelassene Jalousien – die Diagnose bestätigte alles, was Kind und Mutter schon wussten. Ihr Leiden war schwer fassbar, trügerisch, schlich mit einem Wolfsnamen über die Schwelle, blühte in Launen und Farben ebenso aus wie in konkreten Beschwerden. Als dann die rezeptpflichtigen Fläschchen Hydroxychloroquin auftauchten, wurden selbst diese aus dem Bereich der Medizin ins irrationale Zwielicht der Lupus-Aura gezogen. Auch die Heilung konnte eine Laune sein, der verführerische und unterwürfige Duft von Diane Lookins hing in Gardinen und Bettzeug, am schweren Telefonhörer und an den Sandwiches in der Brotdose, die er mittags in der Schule aufmachte.
Die jenseits der Wohnungsgrenzen lauernden Gefahren wurden in Gesprächsfetzen thematisiert, Fragmenten, die einer Sappho oder eines Pound würdig gewesen wären. Sie umrissen eine Welt, für die sich das Kind ungeeignet fühlte – anfangs auf hilf lose Weise, bald schon trotzig. Immerhin öffneten sie die weltabgeschiedene Wohnung für etwas, das jenseits seiner schwülen Atmosphäre des Mitleids und der Bangigkeit lag. Die Anspielungen auf das polizeiliche Universum des Verrats hatten den Anreiz geistiger Ränkespiele in einer Sprache verführerischer Undurchsichtigkeit. Die Wandering Boys und die Four Horseman. Die Guardians Association. Die Payne-Brüder. Der James-Barber-Vorfall. Der William-Haynes-Vorfall. Marihuana. Schore. King H.
Die Hand aufhalten.
Sitte, Hafen, Wohnungswesen, Motorrad, Streife, Innenrevision, Transit.
125th, Convent Avenue, 28. Revier.
Oder einfach Harlem, Titel eines verhassten Kapitels der Familienchronik, das noch nicht lange zurücklag und dem die frühesten Erinnerungen des Kindes galten. Ein anderes Zuhause in einer anderen Stadt, wo alle farbig waren und wo seine Mutter und er manchmal noch hinfuhren, um Tanten und Kusinen zu besuchen. Die Zeit, bevor sie die Wohnung bezogen hatten, die auf den Betoninnenhof von Lincoln Manor hinausging, an der 40th Street Ecke 48th Avenue, südlich der Hochbahn über dem Queens Boulevard, südlich auch der grüneren Bezirke von Sunnyside Gardens (obwohl er sich unter weißen Iren und Italienern und nur vereinzelten Dominikanern und Puerto Ricanern bewegte, bekam der Junge das Gefühl, auf der falschen Seite der Straße gelandet zu sein, und in der ganzen Nachbarschaft war die Sehnsucht zu spüren, da drüben zu leben).
Die Hand aufhalten benannte die Kardinalsünde eines Polizisten und die Rückströmung der Welle, die Douglas Lookins aus Harlem weggespült hatte – eine Welle an Schuldzuweisungen, ein notdürftig kaschierter Skandal. Totgeschwiegene ehemalige Freunde und Anrufe, bei denen am anderen Ende niemand ein Wort sagte. Von Anfang an war Douglas Lookins bei seinen Streifengängen in dieses Fadenkreuz geraten: die unlösbare Krise des schwarzen Polizisten. Von den Vorurteilen der höheren Dienstränge behindert und auf der Straße als Verräter und Spitzel angesehen, als Hausnigger und Onkel Tom. Beim Hochseilakt zwischen einem Himmel des Misstrauens und einem Abgrund der Verachtung hielt man sich an seinesgleichen fest, denen, die in derselben Klemme steckten und durchhielten: den
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