Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Verantwortung zu leichtfertig übernommen – konnten seiner Aufforderung nie und nimmer nachkommen. Vor dem Berg, den er nicht besteigen konnte, spürte Cicero jetzt den Sog des Abgrunds hinter sich, die unergründliche Schlucht zwischen seinem Seminarplan und den unaussprechlichen Vorträgen, die er gern gehalten hätte . Die Kluft, die sich zwischen seinen trostlosen Pflichten und den Impulsen öffnete, die ihn auf seinen Lebensweg geschubst hatten, seine Rebellion gegen die ordinären gedankenlosen Verfahren des Hier und Jetzt. Die Rebellion, die mit seiner Unfähigkeit begonnen hatte, beim Anblick von Tom Seavers Arsch das Sabbern zu unterdrücken.
Wie konnte er von Neunzehnjährigen erwarten, auch nur ein vernünftiges Wort über ihre Mütter zu verlieren? Die meisten von ihnen telefonierten wahrscheinlich noch regelmäßig mit ihren Müttern. Oder skypten. Und Foucault zufolge konnte man etwas erst dann benennen, wenn es anfing zu sterben oder zu verschwinden. Politische Institutionen,das postkoloniale Subjekt und, was das anging, die eigene Kindheit. Cicero hatte gepatzt, hatte wieder mal die Lebenden und die Toten vermengt, den Frankenstein-Affront begangen. Nun kamen die Heugabeln und Fackeln, auch wenn es nur die seines geistigen Dorfs waren.
»Verstehe«, sagte er jetzt. Er sprach, als hätte einer der stummen Studenten eine der Klarstellungen angeboten, die nur in seinem Kopf vorlagen. »In dem Fall fang ich einfach mal an. Sie können sich nach Belieben einschalten. Mir gehen heute die Geschichten durch den Kopf, die nicht erzählt werden, die Fragen, die nicht gestellt werden. Die Geheimnisse, hinter denen sich die Leute verstecken, und die, die stattdessen bekannt gemacht werden. Ich habe gesagt, ich würde über meine Mutter sprechen. Über meine Mutter nachzudenken, ist fast völlig unmöglich. Ich möchte ehrlich bezweifeln, dass irgendjemand während ihres Lebens je länger als ein paar Augenblicke über sie nachgedacht hat. Und wenn ich noch ehrlicher bin, bestehen die wenigen Gedanken, die ich mir heute über sie mache, hauptsächlich aus der Wut darüber, dass sich kaum jemand je zusammenhängende Gedanken über sie gemacht hat. Und das schließt sie selber ein.«
Die nächste ging demonstrativ. Melinda Moore, eine von Ciceros fähigsten, die ihn und sich selbst im vorigen Semester immer wieder überrascht hatte, weil sie mit ihrer Stimme, die nach Studentinnenverbindung klang, erstklassige Textanalysen geliefert hatte und die jetzt mit dem geräuschvollen Zuklappen ihres Laptops und dem Ranschieben des Stuhls klarstellte, dass sie nicht zurückkommen würde. Die Versammlung drohte, ihm mit den Schuhsohlen ihr Misstrauensvotum auszusprechen. Konnte Cicero noch eins draufsetzen und die Katastrophe übertrumpfen? Er konnte es versuchen. »Neben meiner Weigerung, mich ernsthaft mit Diane Lookins’ Leben als Mensch zu beschäftigen, habe ich mir hauptsächlich gewünscht, sie würde weggehen. Ich habe mir gewünscht, sie würde sterben. Ich wollte, dass sie es meinem Vater einfacher machte, damit er mit einer weißen Dame aus der Nachbarschaft abziehen konnte, die mein Vater nämlich fickte.« Cicero wusste, dass er das Kontingent an bestimmten Ausdrücken für diesen Morgen erreicht oder übertroffen hatte.
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Schon in seinen frühesten Erinnerungen nahm sein Elternhaus für den Jungen die Form eines Feldlazaretts an, das auf dem Schlachtfeld namens Stadt eingerichtet worden war. Cicero war ziemlich sicher, dass das nichts mit Diane Lookins’ körperlichen Beschwerden zu tun hatte, zumindest nicht von Anfang an. Es hatte auch nur begrenzt mit den faktischen Berufen seiner Eltern zu tun: die Mutter eine Krankenschwester auf der Unfallstation (wenn auch nur in einer diffusen Vergangenheit), der Vater im operativen Tagesgeschäft an der Stadtfront, ein Polizist mit einem militärischen Dienstgrad.
Nein, es war ein Weltbild, oder zwei Weltbilder, die aus komplementären Bedürfnissen ineinander verzahnt worden waren. Der Stadtsoldat musste irgendwo wieder zu Kräften kommen, musste einen Ort finden, an dem er sich pflegen lassen konnte – einen Ort zum Abladen von Versehrungen, Beleidigungen, Kümmernissen aller Art. Um eine Krankenschwester sein zu können, ohne das Refugium der Wohnung je zu verlassen, brauchte die Krankenschwester stetigen Patientennachschub oder aber jeden Abend denselben Patienten, der diverse Nichtfleischwunden mit nach Hause brachte, die weder heilten noch tödlich
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