Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
zusammenzureimen, bis er aus all den von Douglas Lookins freiwillig und unfreiwilligpreisgegebenen Fragmenten das eigentliche Lamento des Polizisten heraushören konnte. Die unvermeidliche Wahrheit war, dass Rose über den Schlüssel verfügte, dass sie beim Zusammenreimen half. Das bildete vielleicht den Kern von Ciceros Sklavenwut auf Rose: dass er in einer Stunde mit Rose mehr über seinen Vater erfahren hatte als in den siebzehn Jahren, die er in Diane Lookins’ Häuslichkeit eingesperrt gewesen war. Sein Elternhaus war eine Institution, die ersonnen worden war, um Douglas Lookins nicht zu verstehen. Ihn nicht Zeugnis ablegen zu lassen, denn in einem Lazarett wollte man als allerletztes, dass die Patienten redeten. Sie sollten essen, das ja – und man fütterte sie, damit sie die Klappe hielten. Man setzte sie vor den Fernseher, schüttelte die Kissen auf und räumte das Sofa, damit der Patient seine lange Gestalt ausstrecken konnte; man äußerte sich zu der bemerkenswerten Brillanz der Gebirgskette hinter John Wayne im neuen Farbfernsehgerät; man stärkte und mangelte die Bettlaken, alles, damit sich der Patient wohlfühlte – und einschlummerte.
Und wenn das nicht mehr reichte, fing man an zu sterben.
Cicero benutzte Lexika, Straßenschläue und ein Faible für Paradoxa – alles von Rose Zimmer erworben –, um seinem Vater auf die Schliche zu kommen. Das Projekt beruhte auf Gegenseitigkeit, denn Rose versuchte ihrerseits, mit Ciceros Hilfe seinem Vater näherzukommen. An dieser Front arbeiteten die beiden also zusammen. Von Rose erfuhr Cicero, dass sein Vater ein strammer Eisenhower-Nixon-Republikaner war – was keine Schande war; viele Cops waren das, und auch Douglas Lookins’ erklärter Held war es, der aufrechte Jackie Robinson (der sogar Goldwater unterstützt hatte). Was das anging, auch James Brown war für Nixon; unter eigenwilligen und durch eigene Kraft emporgekommenen Negern grassierte die Seuche des Republikanismus.
James Brown war überraschenderweise Douglas Lookins’ musikalischer Held, was er seinem Sohn gegenüber nur einmal zugab, als er eine Pestlaune hatte (»Louis Jordans natürlicher Erbe«, hatte er ihngenannt). Aber erst bei Rose lernte Cicero, sich überhaupt für den Musikgeschmack seines Vaters zu interessieren, denn Platten besaßen sie nicht, und die Sender des Küchenradios wurden von Diane kontrolliert. Erst von Rose erfuhr Cicero, dass sich Douglas Lookins nach den regelmäßigen Gratiskarten fürs Apollo zurücksehnte, die er immer von einem Harlemer Bonzen erhalten hatte, und konnte sich vorstellen, wie er stattdessen mit einsamem Vergnügen Radio hörte, wenn sein Streifenwagen im Schatten am Grand Concourse stand – erst bei Rose begriff er, dass sein Vater die Fähigkeit besaß zu genießen und da draußen nicht nur den ganzen Tag brutal handelte und behandelt wurde. Als Cicero und Rose ihre Beobachtungen austauschten, änderte sich Ciceros Sicht auf seinen Vater; er sah ihn nicht mehr von Dianes Warte als einen Monolithen, der ins Haus gepoltert kam und behandelt, ertragen, genährt und ins Bett manövriert werden musste, sondern als einen Monolithen mit riesigen Innenräumen, in denen sich Appetit regte. (An dem von Diane gekochten Essen gab es nichts auszusetzen, aber man aß nicht mit Appetit, man futterte wie ein Rindvieh.)
Natürlich konnte Cicero den Appetit seines Vaters – unter anderem auf Rose – extrapolieren, weil Rose ihren Appetit auf ihn nicht versteckte. Roses Appetit zeigte Cicero, dass es Appetit gab – Appetit neben Ciceros eigenem, der ihm sonst womöglich als einzigartige Eigenschaft vorgekommen wäre, die seine beschämende Entfremdung vom Rest der Menschheit definierte. Der Appetit seiner Mutter hüllte sich in Fügsamkeit und Schwachsinn, der seines Vaters in stoische Wut. Nun, Rose zertrümmerte das Bild des Stoizismus und noch manches andere! Rose machte sich für den Jungen durchschaubar, ließ sich ihre ganze rauhe Einsamkeit anmerken und den Widerstand gegen diese Einsamkeit, die auf ihr lastete, seit sie Albert und die KP verloren und ihre Tochter an Greenwich Village abgetreten hatte. Und dann zeigte sie ihm, wie Einsamkeit und Widerstand zu Hunger werden konnten – ein aktiver Prozess des Verschlingens, der Cicero faszinierte und gleichzeitig auch ihn zu verschlingen drohte.
Ist irgendetwas unverzeihlicher als das, was ein Kind über seine Eltern von deren Geliebten erfährt?
Und wem ist niemals zu verzeihen?
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