Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
verschleiern! Doch genug.
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19. März 1972,
Vitzthumstraße 5, Dresden
Liebe Miriam,
wenn ich Dir zugestehe, dass das Pferd auf dem Gemälde nicht »per definitionem« ein wichtiges politisches oder militärisches Ziel gewesen sein kann, gestehst umgekehrt Du mir dann zu, dass die Darstellung eines Pferdes auf einem Ölbild kein auf historischen Unterlagen beruhender Bericht ist, sondern eher eine künstlerische Interpretation? Oder besser noch: Wenn ich Dir einräume, was immer Du willst, könntest Du dann bitte aufhören, mir die Postkarte zu schicken? Inzwischen dürftest Du den Souvenirladen vom Museum of Modern Art wahrlich genug bereichert haben.
Herzliche Grüße
Albert
15. November 1977,
Franz-Liszt-Straße 22, Dresden
Liebe Miriam,
ich schleudere diesen Kommunikationsversuch in das lange Schweigen und würde gern noch einmal auf das kommen, was unabgeschlossen zwischen uns liegt, was während Deines Besuchs bei mir vor langer Zeit aufgenommen wurde und seither wieder brachliegt – was größtenteils fraglos meine Schuld ist. Ich möchte Dir auf jeden Fall mitteilen, was mich der Angst trotzen lässt, dass Du zum einen diesen Brief ungelesen wegwirfst, dass er Dich zum anderen gar nicht mehr unter der mir bekannten Adresse erreicht! Ich möchte Dir sagen, dass ich im Januar vor einem knappen Jahr wegen Gallenblasenkrebs operiert worden bin. Ursprünglich machten die Ärzte mir wenig Hoffnung, länger als zwei Jahre zu überleben. Nach zwei Operationen und mehr als drei Monaten Bestrahlung führe ich aber ein vollkommen normales Leben, einmal abgesehen davon, dass mir alle zwei Tage ein bestimmtes Präparat injiziert wird, das die Abwehrkraft des Immunsystems stärken soll. Da ich mir die Spritzen selber geben kann, verursacht die ganze Sache keine großen Scherereien. Ich darf sagen, dass ich praktisch keine Schmerzen habe, und bei der letzten Nachsorgeuntersuchung vor zwei Monaten sagte der Arzt, es bestünde nur noch die einprozentige Chance, dass ein neuer Tumor wuchern werde.
Die Erkrankung hat mich naturgemäß wachgerüttelt und erkennen lassen, dass ich mein Leben nicht wie bisher weiterführen kann. Als ich dachte, dass ich bald sterben würde, habe ich das Gefühl bekommen, dass ich die mir verbleibende Zeit bewusst leben und voll ausschöpfen muss und mich und meine Persönlichkeit nicht leugnen darf. Ich habe mich daher noch im Krankenhaus entschieden, mich von Michaela zu trennen, wohne jetzt seit fast einem Jahr in meiner eigenen Wohnung, habe meine Angespanntheit verloren und unterdrücke nicht länger mein eigentliches Ich. Die Entscheidung hatden Prozess des Heilens und der Wiederherstellung sicher unterstützt. Dass ich so lange eine Lüge gelebt habe, hat es mir wahrscheinlich auch erschwert, Dir zu schreiben. Bitte versprich mir, niemals unehrlich und voller Bedauern zu leben.
Vielleicht hast Du Lust, mir von Dir und Deinem Leben zu erzählen. Ich würde mich sehr freuen, von Dir zu hören. Dass ich Dir alles Gute wünsche, muss ich wohl kaum betonen.
Herzliche Grüße
Dad
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19.1.78
Lieber Dad,
normalerweise stehe ich als erste auf. Das ist kein moralischer Standpunkt, sondern eine Gewohnheit, die ich nicht ablegen kann. Meine erste Tasse Kaffee trinke ich gern allein, bevor ich mich mit anderen Menschen abgeben muss, und ich genieße die ein bis zwei Stunden, bevor das Telefon zu klingeln anfängt. Und es klingelt viel. Den ganzen Tag lang, wenn es einmal angefangen hat, und manchmal auch noch, wenn ich schon ins Bett gegangen bin, weil sich irgendein Typ nach einem der Mädchen sehnt, die hier pennen. Oder ein Mädchen sehnt sich nach einem Typ. Es wird dunkel, sie sind allein, sie rufen an. Aber ich bin morgens gern allein, ich fühle mich überhaupt nicht einsam. Also koche ich Kaffee für alle und trinke die ersten ein, zwei Tassen. Du kannst Dir vorstellen, wie ich hier jetzt mit einem frischen heißen Kaffee sitze, und alle anderen schlafen noch. Das ist die Stunde, in der ich mit dieser Antwort an Dich anfange. Der Dreifuß in Froschform ist kaputt gegangen, ein Bein ist abgebrochen, und ich hab die Kaffeekanne auf den gefütterten Umschlag gestellt, in dem ich Deine Briefe aufbewahre. Ich hatte sie verlegt, habe sie dann aber wiedergefunden. All die hellblauen Luftpostumschlägemit den rotweißen Streifen. Ich habe sie schon vor einem Jahr gesucht und konnte sie nicht finden, aber gestern Abend habe ich sie dann ganz hinten im Schreibtisch entdeckt, alle
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