Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Sergius bringt er da zur Sonntagsschule. Die Älteren geifern richtig danach, dass bei den Andachten Jüngere auftauchen, damit das Quäkertum nicht ausstirbt. Ihre politischen Aktivitäten sind praktisch ein Köder, um Hippies anzuziehen. Ich mein das nicht so zynisch, wie es sich vielleicht anhört. Es ist eine gute Gemeinde. Sie trauen sogar Lesben. Die Älteren sagen, wenn Sergius bestimmte Schulen besuchen will und auf einer geheimen Quäker-Liste steht, dann kommen sie vielleicht für einen Teil des Schulgelds auf. Die höheren Klassen in unserem lokalen Schulbezirk könnten für einen Briefmarkensammler ganz schön problematisch werden.
Ich erwähne das Quäkertum nicht, um Deine Abscheu vor der Religion zu provozieren. Die Quäker halten die Sache sogar ganz schlicht und langweilig, keine Spur kabbalistisch, was Dich erleichtern dürfte. Absolut respektabel und sogar irgendwie deutsch, auf so eine bürgerliche Buddenbrooks-Weise. Ich habe Dir übrigens nie erzählt, dass ich das Buch, das Du mir geschickt hast, gelesen habe, das Exemplar mit der Widmung und dem Schnappschuss von Mann auf seiner Terrasse, der so hinter das Vorsatzblatt geschoben war, wie Sergius seine Briefmarken sorgfältig in die Alben schiebt. Als Kind wollte ich unbedingt wissen, was Alma und Du bloß immer hattet. Die ganzen Tiegel und Flügel und dann die Schokolade, Almas Akzent und das ständige Flüstern von Lübeck hier und Lübeck da. Wahrscheinlich wusstest Du gar nicht, dass dieser fünf Tonnen schwere Marmoraschenbecher aus Almas Wohnung jetzt bei mir ist, der aus der Bank Deines Vaters, ihr einziges Souvenir aus den Ruinen. In dem glimmt jetzt praktisch rund um die Uhr ein Joint. Ich lassemich so sehr darüber aus, weil diese Sachen für mich tatsächlich etwas Religiöses haben. Das war kabbalistisch. Für mich als Kind aus Queens war diese ganze hochdeutsche Seite der Dinge wie ein griechischer Held, der göttlichen Ursprungs ist und den es unter die Sterblichen verschlagen hat. Ich möchte Dir damit nur nahelegen, dass Dein Selbstbild als Modernist und Atheist und Materialist vielleicht nicht ganz so vollständig ist, wie Du glaubst. Aus meiner Perspektive wirkt das ganze Dresdner Zeug, mit dem Du Dich jetzt beschäftigst, diese ganze Kultur in Ruinen, das Buntglas und die Brustwehren – also aus der Ferne wirkt das alles, als wärst Du ein Mönch in der Kirche des Toten Europa. Du hasst Rabbis, dabei gibt es ganz verschiedene Rabbis. Als ich Dich mit neunzehn Jahren in Deinem Alptraum von Spionenlager besucht habe, das Du ein »Institut« nanntest, ist mir ziemlich schnell klar geworden, dass man als Historiker in Ostdeutschland nur revisionistische Thesen für den Kalten Krieg produzierte, dass die deutschen Kriegsverbrechen nämlich nicht schlimmer gewesen wären als die der anderen. Das Ganze ist mir damals zwar nicht aufgegangen, aber die Andeutung hat mir gereicht. Immerhin hatte es etwas Menschliches, wie Du herumgezogen bist und Geschichten gesammelt hast, all diese entsetzlichen Geschichten über den Brand. Für mich hatte es etwas Tragisches, wie Dein Mitgefühl und Deine kommunistischen Ideale Dich an diese Pseudo-»Forschung« gefesselt haben, und verloren hast Du mich erst, als ich die Kehrseite der Medaille erkannt habe, dass Du nämlich Guernica in Misskredit bringen musstest, um Deine These zu erhärten. Apropos, in dem Stapel mit Deinen alten Briefen habe ich gestern noch zwei weitere unbeschriebene Guernica-Postkarten aus dem Souvenirladen vom MoMA gefunden. Die eine hat Stella an den Kühlschrank geklebt, und ich nehm mal an, die andere leg ich diesem Brief bei, falls ich den je beende, einfach um der alten Zeiten willen. Ich hatte tatsächlich vor, Dir für den Rest Deines Lebens jeden Monat eine davon zu schicken. Tut mir leid, aber ich war echt stocksauer.
Wo war ich stehengeblieben? Der springende Punkt ist, was ich bisgerade eben, wo ich’s geschrieben habe, gar nicht richtig verstanden hatte, dass der unverbesserliche Stalinismus für Dich gar nicht das Wesentliche war. Du glaubst vielleicht, mit Deinem neuen Leben in Dresden kannst Du Lübeck wieder in den Arsch kriechen, dabei haben sie Dir auch die Buddenbrooks weggebombt, Dad. Tut mir wirklich leid. Selbst Alma war bereit, herzukommen und in ihrem Sozialhilfehotel am Broadway zu wohnen, aber Du hast es in der Neuen Welt einfach nicht gepackt, stimmt’s? Du warst nicht zu kommunistisch für Amerika, Du warst zu deutsch. Und hier ist noch
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