Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
alten römischen Amphitheater Aida gesehen; die Stimmen der Sänger trugen im Freien ohne Verstärker. Die Italiener lieben ihre Opern, und ich weiß nicht, was ich mehr genossen habe: die Inszenierung oder das Publikum. Beides gehörte zusammen und ergänzte einander; das Leben in Italien scheint nicht so schrecklich ernsthaft und umständlich zu sein wie hier in Deutschland.
Du schreibst, ich solle meinen Besuch in Nordamerika nicht auf die lange Bank schieben, wenn ich meine Mutter noch einmal sehen wolle, und ich gebe zu, dass ich hierfür wahrscheinlich freigestellt werden könnte. Mir würden wahrscheinlich auch diverse triftige Gründe einfallen, warum ich diesmal nicht kommen kann – Michaelas Schwangerschaft, finanzielle Sorgen, der Beruf und was nicht alles –, aber weißt Du was? In Wahrheit möchte ich nicht kommen. Ich glaube, ich möchte Alma aus verschiedenen Gründen nicht wiedersehen. Erstens fällt es mir leichter, sie in einem Brief anzulügen, als vor ihr zu stehen und ihr ins Gesicht zu lügen, wenn es um soviele Einzelheiten meines heutigen Lebens geht, die ihr bislang verborgen geblieben sind. Außerdem habe ich Angst vor der emotionalen Belastung, die es bedeutet, Abschied zu nehmen. Es läge etwas absolut Endgültiges in solch einer »letzten« Begegnung.Außerdem ist mir in Mutters Briefen aufgefallen, dass sie vergleichsweise schnell senil wird. Ich möchte sie lieber so in Erinnerung behalten, wie sie bei ihrem letzten Besuch hier bei uns vor zehn Jahren war, als wir noch zusammen wandern gegangen sind und uns über die verschiedensten spannenden Themen unterhalten haben. Das mag schrecklich egoistisch sein, aber so ist es nun einmal. Dieser Brief muss jetzt los. Ich hoffe, dass es bis zum nächsten nicht so lange dauert. Thomas und Dir sende ich meine besten Wünsche für das Jahr 1969.
Liebe Grüße
Albert
—
24. Juni 1969,
Vitzthumstraße 5, Dresden
Liebe Miriam,
nachträglich noch herzlichen Dank für die Postkartenreproduktion von Picassos Guernica – es versteht sich von selbst, dass uns das Gemälde vertraut ist, auch wenn wir nicht wie Ihr in New York das Privileg genießen, das Original in Augenschein nehmen zu können, aber ich nehme an, Deine Anspielung war augenzwinkernd gemeint – und für die Glückwünsche zu Michaelas Schwangerschaft! Inzwischen hat sie Deinen Halbbruder Errol zur Welt gebracht, von dem ich Dir ein rosiges und rundrum entzückendes Foto beilege. Ich hoffe, Ihr könnt Euch bald persönlich kennenlernen, bitte lass mich wissen, sobald Du auch nur die geringste Chance siehst, uns hier zu besuchen.
Dein Dich liebender
»Dad«
—
8. November 1969,
Vitzthumstraße 5, Dresden
Liebe Miriam,
ich möchte Dir schriftlich für die vierte einer vermutlich unerschöpflichen Folge von Guernica -Postkarten danken, und wiewohl ich diese kurzen und eher kryptischen Botschaften nicht unfreundlich finde, so beschleicht mich doch die Sorge, dass ein substantiellerer Brief in den letzten Monaten verloren gegangen sein könnte. Bitte schreib doch und versichere mir, dass nichts abhanden gekommen ist, wie ich fürchte! Du verstehst wahrscheinlich, dass ich mir wegen der Post Sorgen mache.
Liebe Grüße von Michaela und Errol (der, da Du jetzt schon zweimal um diese Information gebeten hast, der Geburtsurkunde zufolge am 26. Mai frühmorgens um genau 3.14 zur Welt gekommen ist),
»Dad«
—
3. August 1971, Dresden
Liebe Miriam,
wenn Du es mir gestattest, meine Tochter. Deine scharfe Intelligenz wird vielleicht von dem geringen Quantum an historischer Kritik unter den Scheffel gestellt, das auf die Rückseite einer Postkarte passt. Ich habe den Eindruck, Du bist empfänglich für ein Denken in Bildern und Symbolen, in Versatzstücken und Slogans nach Art der Madison Avenue. Einige Deiner Thesen verlangen jedoch eine Erwiderung, zumal sie ins Herz dessen zielen, was mein Lebenswerk geworden ist. Du erwähnst Coventry, Du erwähnst Rotterdam, und mit Deinen Postkarten »erwähnst« Du natürlich wieder und wieder Guernica. Du schreibst (in plakativ illuminierter Handschrift, die denSchriftzug mit Blumen und »Peace-Zeichen« umrankt, als wolltest Du Deinen Worten eine Art mittelalterlichen Bibelzauber mitgeben) »Leiden ist Leiden«. Alles, um die Wahrheit abzustreiten, die ich dokumentiert habe: dass Dresdens Bombardierung durch die Alliierten eine singuläre moralische und kulturelle Katastrophe war, in letzter Konsequenz nur zu vergleichen mit den
Weitere Kostenlose Bücher