Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
diese Zeit hat morgens meistens schon mal das Telefon geklingelt, und irgendwer hat schon einen Joint gebaut, und es wird etwas schwieriger, den Überblick zu behalten. Ich meine, wenn der Junge dann in der Schule ist. Ich verbringe sehr viel Zeit mit Zuhören, auch wenn Du das nach diesem Brief, in dem es nur um mich geht, kaum glauben kannst. Das Telefon klingelt, oder jemand kommt die Treppe runter, und für den Rest des Tages ist die Küche meistens ganz schön voll. Stella will wissen, wem ich schreibe, und ich hab ihr Deinen Brief gezeigt. Sie hat mir immer bei den Sachen geholfen, die ich auf die Guernica -Postkarten geschrieben hab, und Stella hat auch die verzierten Briefe mit den Ranken und Sternen und Peace-Zeichen gemalt, nach denen Du Dich mal erkundigt hast. Sie hat einfach rumgekritzelt, während wir uns unterhalten haben, und dann hab ich das gesehen und gedacht, die schick ich Dir trotzdem. Stella sagt, ich soll Dir schreiben, dass alle zu mir kommen, wenn sie Probleme haben, und ich löse die dann, ich schrei sie an, und danach geht’s ihnen besser. Sie sagt, sie versteht nicht, wie ich das alles bloß zusammenhalte. Sie sagt auch, ich soll Dir schreiben, dass sie in Wirklichkeit diesen Brief schreibt, einfach um Dich zum Ausflippen zu bringen. Wir haben sogar die gleiche Handschrift, wenn einer von uns einen Zettel ans Schwarze Brett hier in der Küche pinnt, weiß keiner, von wem der ist. Aber sie schreibt diesen Brief nicht, sondern ich.
Okay, bin wieder da. War gerade am Telefon, weil Rose ihr tägliches Gejammer über die politischen Lokalmatadoren loswerden musste. Sie nennt sie »Strippenzieher«, die hiesigen Bischöfe und Ganoven, mit denen sie es im Vorstand der Queensboro Public Library zu tun hat, Richter Freeh, Donald Manes, Monsignore Sweeney. Die Männerstacheln sie mit ihren tiefen Canarsie-Akzenten immer zum Ungehorsam an, auch wenn ihr von den Uniformen und Ämtern einer abgeht. In Wirklichkeit ist Rose auch längst eine Strippenzieherin, das will sie bloß nicht wahrhaben. Sie entspricht einem Bezirksbonzen und kungelt, was das Zeug hält. Die Hälfte von den Typen war irgendwann mit ihr im Bett, ich hab da schon keinen Überblick mehr. Aber so wie Rose redet, hab ich nicht den Eindruck, dass sie dieser Tage noch flachgelegt wird. Jeder Bürgermeister von New York ist in ihrem Leben eine Art schlechter Ehemann, eine große und zermürbende Enttäuschung. Der aktuelle, Ed Koch (spricht sich wie Pflotsch), ist wenigstens lauter und sarkastischer als der vorige und wirkt auf sie ähnlich wie Fiorello La Guardia. Wir nennen ihn Ed Kitsch, ich weiß nicht, warum wir das eigentlich so komisch finden, wahrscheinlich liegt es einfach am Klang. Wahrscheinlich findest Du das alles auch gar nicht so lustig, für Dich ist das alles ja Klatsch aus Hintertupfingen. Ich hatte immer den Eindruck, dass Politik für Dich eine ziemlich abstrakte Sache ist. Vielleicht erinnerst Du Dich noch daran, dass sie für Rose eher ein Lippengeschwür ist.
Für uns ist sie Alltag. Die Bewegung hält sich versteckt und fusselt an den Rändern aus, aber wir sind noch da und Nixon ist weg. Wusstest Du, dass Nixon ein Quäker war? Tommy engagiert sich jetzt sehr bei den Quäkern. Das hat mit Vietnam angefangen. Als die Wehrpflicht verschärft wurde, wussten die Quäker lange vor allen anderen Bescheid, wie man den Kriegsdienst verweigert. Jetzt widmen wir all unsere Energie der Todesstrafe und internationalen Angelegenheiten wie dem American Friends Service Committee. Tommy hat für die schon zweimal in Afrika gesungen, und jetzt überlegen wir, nach Nicaragua zu gehen, wo es einfach haarsträubend zugeht. Durch das AFSC wohnen bei uns viele ausländische Studenten, Dissidenten und sogar Revolutionäre, ich wüsste gern, wo die eigentlich ihre Green Cards herhaben. Ich nehme an, die Quäker bürgen für sie, und wer misstraut schon einem Quäker? Einmal hat einer aus Okinawa bei uns gewohnt, Tomo, der hat den amerikanischen Stützpunkt mitMolotow-Cocktails beworfen. Der hat den Tofu immer roh verschlungen und grüne Zwiebeln, die er mit Accent begossen hatte, was reines Glutamat ist. Das haben die immer im Streuer auf dem Tisch stehen, wie wir Pfeffer und Salz. Jedenfalls engagiert sich Tommy total bei denen und will Sergius sogar auf eine Quäker-Schule schicken. Tommy geht jeden Sonntag zur Andacht in die 15th Street und sitzt schweigend da – keine Ahnung, ob er betet, da zwingt einen keiner zu –, und
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