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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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ihr eigenes Essen besser, als hätten ein oder zwei Generationen ihnen die Geschichte von den Knochen gebleicht. Vielleicht oblag der wahre Kommunismus jetzt tatsächlich dem Weather Underground. Vielleicht konnte Lenny aus der Geschichte in die Gegengeschichteabschwirren. Wenn Miriam ihn in ihre radikale Kommune ließ, würden sie ein paar Geldtransporter von Brink’s in die Luft jagen, damit er das Ganze seelisch verarbeiten konnte; vielleicht: Scheiß sogar auf den Wahren Kommunismus.
    Scheiß auf alles, bis nur noch Sex übrigbleibt. Vielleicht konnte sich Lenny gerade noch ins Ich-Jahrzehnt retten, bevor es den Bach runterging und als Schneeballsystem aus Herpes und Scheidungen entlarvt wurde. Irgendwas an der Mischung aus Lincoln-Kostüm und den praktisch unverhüllten Todesdrohungen von Gilroys Mafiosi hatte Lenin Angrush den besten Ständer seines Lebens verpasst. Er hatte einen Zylinder auf dem Kopf und einen in der Hose. Der nichts mit der funkelnden Jayne Mansfield zu tun hatte, die da gerade vor ihm die Hudson Street überquerte. Je tiefer und verlockender ein Dekolleté heute Abend war, desto sicherer war Lenny, dass er einen Mann angaffte.
    Er fand sie, wie verabredet, an der Kreuzung vor den Toren zum Westbeth-Komplex, dem Beginn der Halloween-Parade, wo sich die schwebenden Masken und Blaskapellen zu ihrem fickrigen Schleppzug durchs Village formierten. Die Feiernden wirbelten herum: Teddybären, spritzlackierte grüne Riesen, Reiter ohne Kopf, Nonnen und die riesigen, wie Banner in die Höhe gehaltenen Kopfskulpturen, die Helden und Monster aller Art zeigten, darunter auch einen weiteren Lincoln, der über ihnen türmte, als wollte er auf die Menschen herabstürzen, seine Augen blinde Fensterhöhlen in der schwarzen Nacht, sein Muttermal so groß wie ein eingefallener Basketball. Miriam und Tommy trugen Tarnanzüge, rote Baskenmützen und buschige schwarze Schnurrbärte. Tommy hatte natürlich seine Gitarre wie eine Maschinenpistole über der Schulter hängen. Lennys Begehren war so groß, dass er seine Kusine kaum anschauen konnte. In seiner Hose war nichts erschlafft, aber der Lincoln-Anzug kaschierte das gut.
    »Darf ich raten?«, sagte er. »Ihr seid die neuen Marx Brothers in einem Remake von Die Marx Brothers im Krieg mit Steve Martin und Gene Wilder.«
    »Wir sind Sandinisten, Lenny.«
    Der Junge wurde von ihnen verdeckt und war unter zwei riesigen, mit Blumen aus Papiertaschentüchern verzierten Hörnern aus Pappmaché kaum zu erkennen. Unter dem Kopfaufsatz das Flammenrot seiner Haare. Ein Rätsel, wie ein Halbjude dermaßen irisch aussehen konnte.
    »Und du bist?«
    »Ferdinand der Stier«, sagte seine Mutter. »Sergius protestiert gegen unsere Entscheidung für eine Guerilla, die er für gewalttätig hält.«
    »Und wie genau protestiert ein Stier gegen die Sandinisten?«
    »Ferdinand ist der Stier, der nicht kämpfen wollte. Er wollte lieber an den Rosen riechen.«
    Ach ja. Die privaten Codes zwischen Eltern und Kind, das ewige Mysterium von Heim und Herd. Lenny schüttelte den Kopf. Was Miriam in Sunnyside Gardens zur Explosion bringen musste, reproduzierte sie in Alphabet City.
    »Und du, Lenny?«, fragte Tommy. »Der ehrliche Abe auf der Flucht vor der Irisch-Republikanischen Armee? Das Missverhältnis gefällt mir. ›Ich kann nicht lügen, ich habe versucht, einen Leprechaun mit Narrengold reinzulegen.‹«
    »Die IRA besteht nicht aus Leprechauns, das ist eine Scheiß-Mafia. Und es war kein Narrengold. Entgegen der weitverbreiteten Meinung besteht der Krügerrand nicht aus reinem Gold, sondern aus einer Legierung mit 8⅓% Kupfer. Die Krüger-Medaillons hatten genau denselben Kupferanteil.« Lenny hatte das Gefühl, diese Beschwörung seit fünf schlaflosen Tagen in ein verständnisloses Gesicht nach dem anderen angestimmt zu haben. Erst die Schachter-Brüder, als ihnen die ersten falschen Krügerrands untergekommen waren, die Lenny unter der Schirmherrschaft ihres guten Namens feilgeboten hatte. Karl und Julius Schachter befragten Lenny, erst im Ausstellungsraum und dann, als beide Seiten zu brüllen anfingen, hinten im Tresorraum. Dort an der 57th Street hatte man sich jahrelang auf Lennys Sachkenntnis, sein Urteilsvermögen und sein beispielloses Wissen um Prägevariantenverlassen und daher auch sein gelegentlich ungewaschenes Auftreten als exzentrische Notwendigkeit des Geschäfts geduldet. Was konnte er denn dafür, wenn so ein blöder Wicht im Zwielicht einer IRA-Bar nicht

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