Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
die Geheimnisse für Dich, die ich Dir hier anvertraut habe. Stella liest gerade die ersten Seiten dieses Briefs, und jetzt weiß auch sie Bescheid. Sie sagt, ich soll den Satz von gestern mit dem Leidtun durchstreichen. Aber Du tust mir leid. Es tut mir leid, dass Du krank bist. Und es tut mir leid, soviel geschrieben zu haben, aber Du hattest mich gebeten, Dir zu schreiben, wie ich lebe. Ich versuche, niemals unehrlich und voller Bedauern zu leben. Bitte schreib mir nicht mehr.
Mit freundlichen Grüßen
Miriam Angrush Gogan
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(Das hier wiedergegebene Material umfasst die in den Stasi-Archiven eingescannte und hier lückenlos wiedergegebene Akte # 5006 A, die im Januar 1990 im Ministerium für Staatssicherheit in der Berliner Ruschestraße entdeckt und auf Antrag von Sergius Gogan gemäß den Informationsfreiheitsstatuten der Interatlantischen Allianz freigegeben wurden. Die Briefe mit Poststempel »Dresden« sind Kohledurchschläge der Originale, die der Absender routinemäßig den Behörden einhändigte. Der Brief mit Poststempel »New York City« istdas mit Kugelschreiber verfasste handschriftliche Original, das von den Abfängern mit dem Vermerk »Exzerpieren? Oder hoffnungslos?« versehen wurde. Der Empfänger hat ihn wahrscheinlich nicht zu Gesicht bekommen.)
Das Kostüm passte, Bart, Hut, schwarzer Anzug, alles, selbst wenn die Adidas-Turnschuhe, die unter den überlangen Hosenaufschlägen hervorsahen, die historische Würde etwas trübten. Er hatte die Verkleidung in einem Laden mit dem unglaublichen Namen Marquis de Suede entdeckt, wo er in einem kleinen Seitenteil mit traditionellen Kostümen hing, die fast völlig von Disco-Trainingsanzügen aus Fallschirmseide und winzigen, mit Blech und Aluminium besetzten Leder-Shorts verdrängt wurden. Sein gebatiktes T-Shirt, die Jeans und die Lederjacke mit den Fransen hatte er nicht nur ausgezogen, sondern noch im Laden in den Mülleimer gestopft – sie stellten eh genau so sehr eine Verkleidung dar wie sein neues Kostüm. Nachdem er die Kundschaft und durch das Schaufenster des Ladens sichtbare Passanten unter die Lupe genommen hatte, um sicher zu sein, dass er nicht beobachtet wurde, schälte Lenny Angrush die Bezahlung von einem Bündel ab, das ausschließlich aus den neuen Zweidollarscheinen bestand – wedelte dem verlebten, Maskara und Stoppeln tragenden Village-Bewohner an der Kasse vom Marquis mit den glücksbringenden Scheinen zu, als wollte er sagen, die Währung hält einem eine Geschichtsstunde, wenn man nur mal darauf achtet, was man in der Hosentasche hat, aber wer macht das schon? – und stieg dann zur IRT-Station Christopher Street hinab. Der MTA-Kontrolleur in seinem Kabuff sagte nichts zu Lennys Kostüm, wollte den Zweihundertjahres-Zweier im Gegensatz zu dem Homosexuellen aber erst nicht annehmen. Lenny musste ihm eine Standpauke darüber halten, es sei die Pflicht und Schuldigkeit eines Angestellten der Stadt, die legitimenZahlungsmittel seines Landes zu kennen, der sechzehnte Präsident verteidigte den dritten. Nach der erfolgreichen Tirade – niemand übertraf Lenny Angrush beim Predigen, und außerdem staute sich hinter ihm bald eine aufgebrachte Schlange von U-Bahn-Fahrern – bekam er seinen Blechjeton. Das Berechtigungszeichen für die Subway von NYC, die Währung des örtlichen Hades, die nur ein todgeweihter Narr sammelte. Lenny kaufte nie mehr als einen, den er wenige Schritte weiter schon wieder deponierte und sich weigerte, die Flusen seiner Hosentasche von ihm besudeln zu lassen. Er bekam Zutritt zum Bahnsteig und wartete dort mit den anderen verkleideten Losern auf eine Gelegenheit, den Regionalzug in die Innenstadt zu nehmen.
Bildete er es sich bloß ein, oder nahmen die Schwarzen trotz all den schwachsinnigen Axtmördern, heißblütigen Catwomen, Frank N. Furters und Darth Vaders im IRT-Waggon wirklich allesamt den holzhackenden Anwalt aus Kentucky aufs Korn? War die Annahme so falsch, dass ihr Blick voller Dankbarkeit auf diese spezielle Gestalt fallen sollte? Aber vielleicht fanden sie ja auch, der Mann darunter wäre des Barts unwürdig. Egal, auf die war gescherzt, wenn sie keinen Schiss vertrugen.
Ein Mitfahrer hatte es geschafft, sich in einem Kamelkostüm durchs Nadelöhr vom Drehkreuz zu lavieren.
Es gab auch einen Mann in einem geradezu subtilen Crazy-Eddie-Kostüm, aber vielleicht war es auch der echte Crazy-Eddie, der von der Arbeit nach Hause fuhr, in dieser Stadt wusste man das ja nie so
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