Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
etwas, wogegen ich mich immer gewehrt habe, bis ich diesen Brief angefangen habe, obwohl ich noch gar nicht darauf eingegangen bin: Mein Besuch bei Dir gehört zu den schlimmsten Ereignissen meines ganzen Lebens. Was Du damals die »Peinlichkeit mit dem deutschen Jungen« genannt hast, war grauenhaft, und Dirk war kein Junge, er war ein Mann, einer von Deinen schrägen Kollegen oder Genossen, und beim Picknick hat er mir erzählt, er wäre mit Michaela zusammen gewesen, bevor sie Dich geheiratet hat, und was er dann mit mir gemacht hat, war praktisch eine Vergewaltigung, weiß ich heute, und für ihn war das anscheinend irgendwie eine Rache an Dir, weil Du Michaela geheiratet hast. Ich habe immer gedacht, Du hättest das alles gewusst. Was Du nicht weißt, ist, dass ich damals noch ziemlich unerfahren war, auch wenn ich garantiert immer das Gegenteil gespielt habe. Als ich nach New York zurückkam, konnte ich Rose nichts davon erzählen. Sie hatte mir jahrelang erzählt, die Deutschen hätten ihr alles genommen – damit meinte sie Dich, nehme ich an, und den Krieg, alle ihre ermordeten Verwandten und auch die Revolution, die sie ihrer Meinung nach verdient hatte, nachdem sie so sehr für sie geackert hatte, und damals fand ich es komisch, dass sie die Nazis und ihren jüdischen Exmann immer durcheinanderbrachte! Und auf dem Höhepunkt ihres besonders theatralischen Monologs sagte sie dann immer, es würde sie umbringen, wenn man ihr auch mich noch nehmen würde. Und da stand ich nun, scheinbar zurückgekehrt, aber insgeheim gestohlen.
Es braucht zwei Eltern, um ein Kind zu machen, das dürfte auch Dir nicht entgangen sein. Auch ein fehlendes Elternteil macht ein Kind, ob es nun wegbleibt oder wieder auftaucht. Das eine oder das andere oder beides. Rose hat mich gelehrt – und immer so getan, als wäre das das Wichtigste, was sie mir beizubringen hatte –, mich nicht als Jüdin fühlen zu wollen. Ich hab’s damals nicht verstanden, hab nicht kapiert, warum ich das wollen sollte, denn ich hab mich ja von Anfang an nicht als Jüdin gefühlt. Wir sind nie in die Synagoge gegangen, und die Mesusa hat sie vom Türpfosten gehebelt, als wir in die Wohnung in der 46th Street gezogen sind, wo vorher Juden gewohnt hatten – ich sah ja, was Juden machten, und wir machten das nicht . Meine Identität war die einer New Yorkerin und die einer Linken. Die einer antiamerikanischen Amerikanerin, was kompliziert genug war, eine Rolle, die ständige Wachsamkeit erforderte. Aber als ich Deutschland besucht und Dich wiedergesehen habe, da habe ich verstanden, was der deutsche Teil in Dir über den jüdischen Teil dachte und wie Du Dich in Bezug auf Rose gefühlt hast. Du hast mir wider Willen beigebracht, mich als Jüdin zu fühlen. Plötzlich wusste ich, dass ich eine war, und konnte endlich verstehen, warum ich wollen sollte, keine zu sein. Ich habe die nötigen Informationen in umgekehrter Reihenfolge bekommen. Da hast Du’s: Ich brauchte eine Mutter, und ich brauchte einen Vater, um meine Erziehung abzuschließen.
Ihr gleicht Euch darin, dass Ihr beide noch immer den Zweiten Weltkrieg auskämpft. Um die verbrannten Leichen trauert, die einen hier, die anderen dort. Und beide seht Ihr die Welt von heute nicht, wie sie ist. Ich würde keinem von Euch ein Kind anvertrauen – aber ich bin das Kind, das Euch anvertraut wurde. Wahrscheinlich hätte ich dieselbe Entscheidung getroffen wie Du und das Kind bei Rose in der Neuen Welt gelassen, trotz einiger Greuel, von denen ich Dir erzählen könnte, keine Greuel wie in Dresden, aber um Öfen ging es auch, da tragen wir dieselben Altlasten mit uns herum. Aber wirklich, Gott sei Dank bin ich bei Rose in der Neuen Welt geblieben,wobei ich auch nicht davon ausgehe, Du hättest je überlegt, mich mitzunehmen. Dem Himmel sei Dank. Dem Schützen sei Dank und meinem Mond in den Zwillingen. Danke, Uncle Sam, dass Du dem ostdeutschen Spion verboten hast, je wieder unsere Grenze zu überqueren. Ich lese diesen Brief des Wahnsinns, und er wirkt wie Kindergekrakel, ich hab keine Ahnung, ob Du je soweit lesen wirst, aber in gewisser Weise hat ihn ja auch ein Kind geschrieben, also macht das nichts. Es ist mir nicht entgangen, dass Du alles so eingerichtet hast, dass Du auch den armen Errol im Stich gelassen hast, meinen Halbbruder des Kalten Krieges, dessen Name in Deinem Brief kein einziges Mal fällt, mit sieben Jahren, im selben Alter, in dem Du mich im Stich gelassen hast. Bitte behalt
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