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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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ausschließlich schwarze Konzert-T-Shirts trug, gab trotz seiner Kinnnarbe und dem entschlossenen, aber dürftigen Schnurrbart keine sehr aufrechte Figur ab, als er auf das Mannesalter zuschlurfte; für Murphys scharfsichtiges Auge war er sicher einer der bekifftesten Kiffer – aber Toby strahlte noch etwas anderes aus, das zu der inspirierendstämmigen Statur passte und die Sportler von Pendle Acre immer veranlasste, ihn zu bitten, den Joint auszumachen und beim Basketball den Power Forward zu spielen. Toby, der seit seinem elften Lebensjahr am Wochenende nach New York fuhr, war ein geborener Anführer, was einen Vertrauenslehrer die Wände hochtreiben konnte, weil er diese Gabe hauptsächlich einsetzte, um leicht zu beeinflussende Mitschüler zum Schwänzen zu animieren, und einmal sogar eine Bierlieferung direkt ins East House organisierte. Als Toby Sergius unter seine Fittiche nahm, sah Murphy wohl auch in Toby eine positive Entwicklung. Als somit der Junimorgen anbrach und mehr Schüler denn je zuvor aus Pendle Acre zum Busbahnhof zu fahren waren, weil sich schon herumgesprochen hatte, dass die Anti-Atom-Demonstration im Central Park die größte Demo in der Geschichte der USA werden würde, die man einfach nicht verpassen durfte, stieg diesmal auch Sergius ein.
    Sergius und Toby hatten von Murphy eingeschärft bekommen, auf Nummer sicher zu gehen, und das konnte man auch in dem riesigen Menschen-Sandwich, das sich zwischen dem zertrampelten Gras und dem Himmel mit der Wolkenkratzer-Skyline in der Ferne ausstreckte. Auf der Great Lawn herrschte die Stimmung eines Volksfests, die Menge war zufrieden mit sich, aber Toby genügte das nicht, er suchte unerschrocken nach einer Grenze, die er überschreiten konnte. Er trennte Sergius von den anderen Schülern aus Pendle Acre, und die beiden schlenderten zum Parkrand, ergründeten die Zone, in der die moralische Rechtschaffenheit und die Feindseligkeit oder Gleichgültigkeit der großen weiten Welt aufeinandertrafen. Am Columbus Circle drängelten sie ganz nach vorn in einer Horde, die mit Megaphonunterstützung skandierte »What do we want? – Peace! – When do we want it? – Now!« und an eine Polizeiabsperrung gepresst wurde, die ein Wall aus Mammutpferden mit toten Augen unterstützte.
    »Komm«, sagte Toby, und sie duckten sich darunter hinweg.
    Toby war wie Miriam – er gierte nach Opposition. Dergestalt traf Sergius seine Eltern wieder, in Ähnlichkeiten und ungebetenen Seitenblicken. Jetzt überfluteten ihn sensorische Erinnerungen, als steckte erim Vergangenheitsterror einer Reinkarnation, dem Wachtraum einer kollabierten Zeit. Einmal hatte er sich mit Miriam zu nah an Polizeipferde herangewagt, bei der berühmt gewordenen Protestaktion in der Innenstadt gegen das Ministerium für Gesundheitspflege und Soziale Dienste, wo Mütter für mehr Tagesstätten auf die Barrikaden gegangen und lebende Allegorien geworden waren, weil sie Kleinkinder ins Gefecht mitgenommen hatten. Er kannte diese Geschöpfe mit ihren abgrundtiefen Nüstern, den Schweißbächen auf den ausladenden Brustkörpern und den auf den entsetzlich hohen Tieren optisch geschrumpften Polizisten mit ihren Stiefeln, etwas, das verantwortungslos auf die Straßen losgelassen wurde und andeutete, dass Tommy und Miriam bei ihren albernen Kreuzzügen übersehen hatten, dass die Staatsgewalt mit ihren elektrischen Stühlen und Neutronenbomben den Vorteil des Nihilismus auf ihrer Seite hatte. Wie sollte Sergius Worte finden, um ihnen das zu erklären? Die Chance war vorbei. New York war ein unverhüllter Aufbewahrungsort für das Unheil der Vergangenheit, das überall in die Gegenwart durchsickerte, und die Halbinsel, die von ungezählten, jubelnden, für den Frieden demonstrierenden Millionen überflutet wurde, schrumpfte auf das Gegenüber eines leidenden Jungen und eines furchtbaren und wohl ebenfalls leidenden Pferds.
    —
    Da er ein Schutzbefohlener der Schule war und keine große Neigung zeigte, ihr Gelände zu verlassen; da er im weiteren Sinn unter Vormundschaft vom Stipendienausschuss der Jahresversammlung vom 15 th Street stand; da er so gut wie nie eine Andacht ausließ; da er in Murphys Klassen jetzt eine Art Tutor geworden war, der Legionen von jüngeren Schülern im Gitarrenspiel unterwies – aus all diesen Gründen machte in Pendle Acre, als Sergius fünfzehn war, der harmlose Witz die Runde, dass er nach seinem Abschluss an einem der Colleges der Freunde, ob nun in Earlham,

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