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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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buddhistische Exerzitien. Sergius ignorierte den roten Auslöseknopf für seine Bordgeschütze und konzentrierte sich mit jeder Faser seines Wesens auf den Joystick und das Fliegen. Sein Doppeldecker war stumm. Wenn er so flog, aufmerksam trudelte, wegtauchte und Zusammenstößen ebenso auswich wie dem unregelmäßigen roten Feuer seiner Feinde, würde er nie sterben müssen, merkte Sergius. Für ihn war es ein Klacks, den schlaftrunkenen Gefechten der Propellermaschinen endlos auszuweichen, auch wenn sie dann massiert in unzählbaren Schwadronen auftauchten. Mit einem Punktestand von Null – die Designer von Time Pilot hatten keine Belohnung für das bloße Überleben vorgesehen, nur Punkte für das Morden – blieb er auch in der Zeit stecken. (Später sagte sich Sergius, dass der Erste Weltkrieg einen guten Endpunkt für das darstellte, woraus er ein pazifistisches Videospiel gemacht hatte; bei den Nazis wardie Kriegsdienstverweigerung schließlich an ihre Grenzen gestoßen.) Seine Feinde oder ihr Feuer wurden nie schneller, trieben immer nur träge über den Schirm, bis Sergius’ Joystick-Operationen dann riesige Wolken der Ungemordeten hinter sich herzogen, die wendeten, wenn er wendete, aber immer langsamer und ohne Erfolg.
    Wenn seine Leistungen bei Frogger Aufsehen erregt hatten, zog Sergius jetzt ganze Scharen an. Sein Stand war für die Stadtkinder ebenso ein Magnet wie für seine Mitschüler aus Pendle Acre, auf die er sich verlassen konnte, damit die, die seine Strategie erboste, keine antipazifistischen Proteste anbrachten. Zum einen hörte sich ein Videospiel falsch an, wenn nichts explodierte und sich außer der Anzahl der Verfolger nichts änderte. Schlimmer war der Affront des unberührten roten Knopfs. Mehr als eine Hand wurde frustriert ausgestreckt, um für ihn draufzudrücken und das Szenario zu ruinieren, bis sich dann Toby Rosengard, der auch auf den Fußmärschen nach East Exeter Sergius’ Beschützer geworden war – und unter seinen Doors-T-Shirts und der Haarmähne einen muskulösen Körper mitbrachte und am Kinn eine echte Messernarbe aufwies, die er bei einer Auseinandersetzung auf dem Schulhof an der Columbus Avenue erhalten hatte, die dann in seiner Exilierung nach Pendle Acre resultierte –, neben ihm aufbaute, was genug Präsenz war, um Flammen zu löschen, bevor sie hochzüngelten.
    »Scheiße, der hat ja die gesamte deutsche Luftwaffe an den Hacken. Der muss doch nur wenden und feuern und schon hat er einen Rekord in der Tasche!«
    »Ja, aber dann würde er ein Level weiterkommen. So spielt er den ganzen Abend für einen Vierteldollar.«
    »Das heißt, er mogelt.«
    »Such dir dein eigenes Spiel und lass ihn in Ruhe.«
    »Und wenn ich nun das hier spielen will?«
    »Okay, in einer Stunde hört er auf, nicht weil er verliert, sondern weil wir Sperrstunde haben.«
    »Willst du mich verarschen?«
    »Such dir ein anderes Spiel oder hol dir draußen einen runter. Er hört auf, wenn er aufhört.«
    Und die ganze Zeit setzte der rote Knopf Staub an. Mustergültig schweifte der Pilot der Zeit schweigend herum wie Ferdinand der Stier, steuerte durch eine Himmelsarena und zog einen Kometenschweif an Matadoren hinter sich her.
    —
    Und Sergius nahm sein Leben als Demonstrant wieder auf. 1979 war er für die Aktionen nach dem Störfall von Three Mile Island noch zu jung gewesen; Murphy und er hatten den Oberstufenschülern beim Malen der Transparente geholfen, sie in drei Transporterladungen zum Sonderbus nach Washington DC gefahren, waren nach Pendle Acre zurückgekehrt und hatten Gitarre gespielt und den Liveberichten im Radio gelauscht. Als ein Jahr später die Wehrpflicht verschärft wurde und es wieder Zeit wurde, auf die Straße zu gehen, sorgte sich Murphy erneut zu sehr um Sergius. Dieser pochte darauf, er wäre zum Demonstrieren geboren worden, und berief sich auf die Volksfeuerwache und andere Anlässe. Keine Chance. Vielleicht hatten seine Gesuche aber eine Art kumulativen Effekt, oder aber Sergius wuchs in den beiden Jahren danach um die entscheidenden paar Zentimeter. Ausschlaggebend war am Ende aber wohl Toby Rosengards Angebot, Sergius’ Gouvernante zu spielen, das Murphy soweit beruhigte, dass er Sergius die Teilnahme an der Demonstration erlaubte.
    Es kamen noch andere ältere Schüler mit, solche aus der Oberstufe, die irgendwann sitzengeblieben und daher schon im Studentenalter waren, aber es war Toby, der für Sergius in die Bresche sprang. Toby, der

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