Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
Vom Netzwerk:
Wiederholungen von Twilight Zone und Raumschiff Enterprise auf Channel 11 an, bis Sergius irgendwann einschlief, es gar nicht mehr ins eigene Zimmer hoch schaffte.
    Als sie am nächsten Tag U-Bahn fuhren und in der hohen Kaverne der Penn Station ihren Zug nach Philadelphia suchten, bewegten sich Murphy und er unter der Gewitterwolke von Murphys Stimmung, in einem Schweigen, das nichts Freundliches hatte, und als Murphy im Zug dann seine Gitarre auspackte, spielte er kleinlich, unlehrerhaft und selbstmitleidig. Sergius nahm ihm das nicht übel. Auch er hatte Mitleid mit Murphy, denn dieser wusste etwas nicht, wovor Sergius ihn gleich hätte warnen können: Er durfte Stella Kims quecksilbrige Art nicht persönlich nehmen, selbst wenn sie bei Murphy wie bei jedem Liebhaber als Unentschlossenheit ankommen musste. Sergius hätte es Murphy gegenüber zwar nie offen zugegeben, aber er hatte auch Mitleid mit Stella Kim. Denn im Gegensatz zu Sergius hatte sie jemanden verloren, den sie nicht vergessen konnte! Und an diesem Punkt, sollte Sergius später verstehen, bei diesem Rücksturz in eine kochende Vergangenheit, die ihm bei lebendigem Leib die Haut abzog, hatte sein Projekt des Vergessens seinen Anfang genommen. An den Besuch selbst sollte er sich erinnern, aber er errichtete in seinem Gedächtnis eine Barriere, die er nie überwinden sollte. Er war der Welt von Tommy und Miriam, der Kommune beraubt: So sei es jetzt und immerdar. Stella Kim und Murphy waren gleich töricht und hatten jedes Elend verdient, das sie zusammen entdeckt hatten, denn sie hatten in ihrem Zimmer im zweiten Stock etwas versucht, das nie hätte versucht werden dürfen: Sie hatten Miriam und Tommy heraufbeschworen, indem sie ihre eigenen Körper vereinigten. Sergius hattekeinen Bedarf an einem zusammengekratzten, hasenschartigen, nach wiederaufgewärmter Misosuppe riechenden Trugbild.
    Als Murphy zu Beginn des neuen Schuljahrs nach Pendle Acre zurückkam, zurück von einem Frontabschnitt im Krieg des Lamms, für den er sich als untauglich erwiesen hatte, verwandelte er sich wieder in sein verantwortungsbewusstes, asketisches Selbst. Die Schlafsäle füllten sich wieder, der Unterricht fing wieder an, und die orangeroten Blätter auf den Rasenflächen wurden zu gewundenen Wällen zusammengeharkt. Nur ein einziges Mal kam Murphy auf das zu sprechen, was vielleicht nur ein Fiebertraum von New York City gewesen war.
    »Ich muss mich noch bei dir entschuldigen, Sergius.«
    »Wofür?«
    »Den Besuch. Er ist anders gelaufen, als ich geplant hatte.«
    Sergius zuckte die Schultern und stimmte weiter die Saiten.
    »Ich meine, wenn du gewollt hättest, hätte ich dich zu deiner Großmutter gebracht. Das hätten wir auf der Hinfahrt im Zug besprechen sollen, aber, na ja, ich hab’s vermasselt. Würdest du das wollen, Sergius? Deine Großmutter besuchen?«
    Machte sich Murphy über ihn lustig? Dem Richter gegenüber hätte Sergius um ein Haar darum gebeten, bei Rose leben zu dürfen. Da dieses Haar jedoch nicht ausgezupft worden war, war Murphys Angebot eine absurde Kränkung. Sergius spürte ein Bauchgrummeln des Verrats: Bedauerten Murphy und Stella Kim, dass sie diese Stellvertretung ausbaldowert hatten? Waren die ganzen Winkelzüge, über die Sergius bewusst im Unklaren gelassen worden war, von Murphys Phantasien abhängig gewesen, Stella Kim könne seine Freundin werden? Entweder waren die beiden zwei Idioten, oder sie hatten es auf seine absolute Zerstörung abgesehen. Wenn es schon einem Achtjährigen klar war, wie konnte es dann einem Erwachsenen entgehen, dass ein Besuch bei Rose undenkbar geworden war, nachdem er sie einmal verraten hatte?
    Vielleicht kannte Murphy Rose einfach nicht.
    Stella Kim kam noch ein paarmal vorbei, brachte das Alice- Buchmit, ein Paar Ohrringe von Miriam, Tommys LPs und anderen Krimskrams, aber Sergius setzte nie wieder einen Fuß in die Kommune. Und Sergius sah auch Rose nur noch ein einziges Mal, und das war erst, nachdem sie aus ihrer Wohnung in Sunnyside Gardens herausgeholt worden war.
    Im Rückblick war die hirnrissige Frage der Auftakt, von dem an Sergius ganz langsam den Glauben an Harris Murphy verlor. Eine Ranke des Zweifels, die sicherlich mit der Murphy-Skepsis am Feuerkreis gekeimt war, in den Nikotin-, Nelken- und Haschischschwaden, die in die Galaxien hochgewirbelt waren. Die Frage war viel unverzeihlicher als der verkorkste Ausflug. Der Besuch war krampfartig erfolgt, ein Blitzeinschlag, den Sergius und

Weitere Kostenlose Bücher