Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Aussehen, ihre Stimmen oder ihre Umarmungen erinnern konnte – er hatte jedenfalls das Gefühl, dass das jeweils der Trennungsgrund war. Als würde ihr warmherziger Gitarrist mit den blassen Wimpern damit eine krankhafte Eitelkeit an den Tag legen, als würde er die Abwesenheit von Tommy und Miriam als eine Art Warnung vor einer emotionalen Sturheit heraufbeschwören, die bei einer Uniliebschaft nicht gerade Gutes verhieß.
Nach Berklee arbeitete er eine Zeitlang als Privatlehrer in Cambridge und Bunker Hill und tilgte nach und nach sein Darlehen in bar, zahlte das Geld immer eigenhändig bei der Bank ein. Irgendetwas in ihm rieb sich aber daran, die Häuser der Reichen zu betreten.Er war ziemlich sicher, dass darin noch Miriams Argumente nachhallten, ihre Botschaften pulsierten genauso in seinem Kreislauf wie die Schuldgefühle, die sich unweigerlich meldeten, wenn er im Supermarkt Trauben oder Eisbergsalat in den Einkaufswagen legte.
Da seine Fähigkeiten exportfähig waren, schaffte er es bis Amsterdam, dann sogar nach Prag. Unter anderen Amerikanern stellte er sich dort auf einen ungewinnbaren politischen Standpunkt und versteifte sich auf den perversen Widerstand gegen eine Kultur von Auslandsamerikanern, die das Verfallsdatum der Hippiebewegung um jeden Preis überschreiten wollten. Die Europäer wollten ständig nur wissen, ob er Jude sei, und darauf hatte er keine Antwort. Er verließ Europa.
Durch die sechsmonatige Abwesenheit hatte er sich von seinen Bekannten freigeschwommen, nur der Job als Privatlehrer blieb und brachte ihn diesmal nach Newport Beach. Er machte es sich zur Regel (und verletzte sie nur einmal), nicht mit den Müttern seiner Schüler zu schlafen. Er freundete sich mit einem Schwarzen an, der auf einem Fischerboot arbeitete, was nicht die Frage beantwortete, was Sergius hier bloß zu suchen hatte.
Der Kontakt zu Murphy war da schon abgebrochen. Und er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal an einer Stillen Andacht teilgenommen hatte.
Aber als sich Pendle Acre meldete und sagte, Murphy wäre fort – anscheinend war der Sucher und Büßer zu guter Letzt der eigenen Nabelschauspielerei erlegen –, und man wolle Sergius ans Herz legen, sich um die Nachfolge zu bewerben, da ging er. In Berklee hatte ihm ein Mentor mal erklärt, die Weitergabe eines musikalischen Talents laufe nicht zwangsläufig auf eine Bühnenkarriere hinaus; damals hatte er das jämmerlich gefunden, aber hier stand er nun und hatte mit nur sechsundzwanzig Jahren eine Festanstellung als Lehrer. Selbst Murphy, der Inbegriff der Bescheidenheit, hatte sich auf ein paar Podien blicken lassen, war ein paarmal aufgetreten, bevor er in seine risikoscheue Disziplin, zur regelmäßig erneuerten Unschuld seiner Schüler und Ministranten geflüchtet war.
Das Internat war herrlich unverändert. Das hatte Sergius nicht anders erwartet und wäre beunruhigt gewesen, wenn es anders gewesen wäre.
Man quartierte ihn nicht in den Kellerräumen vom West House ein – dort wohnte jetzt eine Mathelehrerin, mit der Sergius ein paarmal schlafen sollte, davon einmal auf der Couch, auf der er vom Mord an Tommy und Miriam erfahren, Tausende von Stunden lang das Fingerpicking gelernt und einmal in die Hose geschissen hatte. Aber noch bevor er mit der Mathelehrerin zusammen war und ihre Zimmer zu sehen bekam, hatte er das Gefühl, dass das Unvermeidliche eingetreten war. Er fragte sich, ob ihn an dem Tag, an dem er Murphy in den Keller vom West House gefolgt war, jemand hätte warnen können, dass ein Teil von ihm da nie wieder rauskommen würde. Er bezweifelte es.
Als er das erste Mal zum Feuerkreis vordrang und die Unterhaltung verstummen ließ, sah sich Sergius durch ihre Augen – Der rothaarige Loser wagt sich doch tatsächlich her! – und wusste, dass sie hundertprozentig recht hatten.
Es half ihm nicht viel weiter, aber Sergius wusste jetzt, dass er Murphy verachtete. Scheiß auf Murphy, der Tommy und Miriam besser gekannt hatte als er. Scheiß auf ihn, der mit Stella Kim geschlafen hatte, ihr Interesse aber nicht lebendig erhalten konnte. Und scheiß auf ihn, weil sein Fingerpicking, wie Sergius in seiner weiteren Ausbildung einsehen musste, nicht nur besser war als Tommys, das auf Platten dokumentiert vorlag, sondern auch als Sergius’. Scheiß auf ihn wegen seiner so leicht zu widerlegenden Quäker-Schuldgefühle und weil er sein monotones ›Lebe gemäß dem Inneren Licht‹ doch so tief in Sergius
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