Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
unsicher.
»Klar, kann schon sein. Ich bin dem aber mal nachgegangen. Du weißt ja, dass die meisten Quäker nicht mal beim Schweigen mitmachen, oder? Da heißt das programmierte Andacht, und die Geistlichen rammen dir das Licht in die Kehle wie in jedem anderen Gottesdienst auch. Ich steh da ja nicht so drauf, programmiert zu werden. Meine Eltern haben diese Werner-Erhard-Scheiße an mir ausprobiert, als ich die ersten Male in Kloppereien geraten bin. Die Sache ist, George Fox, dem Typ ging es nur um Jesus.«
Sergius hatte das Gefühl, der Hochsitz unter ihm würde schrumpfen oder in die Erde sinken. Strawberry Fields war vielleicht eher eine Schale, und ihre Felszunge aus Granit lag ganz unten, und sie sahen in die Höhe. Toby breitete derweil weitere Ergebnisse seiner Recherchen aus. »Die Sache ist, Jesus ist doch der Erlöser, stimmt’s? Er ist auf die Erde gekommen, damit uns unsere Sünden vergeben werden, denn wir werden ja schon als Sünder geboren .«
Vielleicht hatte man die Welt um einen her selbst geschrumpft, um sie in dieser Form begreifen oder überleben zu können.
Geschrumpft, damit sie zur fraglichen Seele passte.
»Also hab ich mir gesagt, wenn so ein Hippie mit Narbenfresse die Jesus-Nummer abzieht, dann will er eigentlich sagen, ich bin böse. Ich meine, kannst du ein kleines, brüllendes Baby anschauen und ernsthaft denken, das ist als Sünder geboren ? Findest du das nicht total abgefuckt?«
»Ich glaube, mich interessiert einfach mehr die Sache mit der Gewaltfreiheit«, sagte Sergius. And nothing to get hung about.
»Klar. Cool. Hast du Hunger? Auf der Amsterdam Avenue gibt’seinen Laden, da schiebst du dein Geld unter einer kugelsicheren Scheibe durch und kriegst, was weiß ich, fünf Kilo Bratreis mit Huhn für drei Dollar – total abgedreht.«
—
Am nächsten Morgen stolperte er ungeduscht und mit ausgetrocknetem Mund nach unten und warf seinen Rucksack auf den Rücksitz von Stellas Fiat, der in zweiter Reihe parkte, um ihn nach Queens zu bringen.
»Spät geworden?«
»Hm, ja.«
Sie lachte. »Keine Angst, Rose merkt da keinen Unterschied.«
Sie schlängelten sich auf einer Durchgangsstraße mit den Taxis durch den Central Park und kamen dann über die Triborough Bridge in die unmögliche Heimat aus qualmenden Schloten und Grabsteinen. Sergius erwartete ein plötzliches Wiedererkennen, war ängstlich gespannt, welche Impulse seine Außenbezirks-DNS auslösen würde, aber noch vom Brooklyn-Queens-Expressway aus zeigte Stella ihm schon das Pflegeheim. Die Anlage hatte keine Ähnlichkeit mit irgendjemands Heimat, lag in keinem erkennbaren Viertel oder gar Wohngebiet, sondern in einer hässlichen Schnellstraßenschleife, ein achtstöckiger Turm, umgeben von ein paar unansehnlichen Hecken und Parkbänken im Schatten der kargen Überführung. Die Szenerie beschwor überhaupt nichts herauf und düpierte seine eitle Erwartung, Queens könne etwas mit ihm persönlich zu tun haben. Vielleicht erwartete ihn hinter dem Schrecken dieser Expedition nur eine Taubheit, die seine nachtlange Betäubungsaktion mit Toby überflüssig machte. Seine Großmutter im erzwungenen Exil – für Sergius bloß eine weitere Gelegenheit, nicht zu erfahren, was ihm hinter der Tür mit der Aufschrift Sunnyside entgangen war.
Drinnen roch es grausam nach Kirschwackelpudding und Urin über der Basisnote eines blumigen Desinfektionsmittels. Bodenfliesen zogensich bis in Brusthöhe an den Wänden hoch, als wäre das ganze Gebäude nur eine kaum kaschierte und sehr geräumige Badewanne.
»Wenn du Hunger hast, kannst du dir einfach ein Tablett nehmen«, sagte Stella. »Stört die nicht.«
»Nein, danke.«
Sie brachte ihn zu der angelehnten Zimmertür und trat einen Schritt zurück. »Letztes Mal hat sie mich mit Miriam verwechselt. Das verhilft dir wahrscheinlich aber auch nicht zu dem Besuch, den du brauchst.«
»Macht nichts.«
»Ich werd mich mal bei den Schwestern erkundigen. Wenn du mich nicht gleich findest, bin ich draußen und rauch eine.«
—
Er immatrikulierte sich am Berklee College of Music, weil die Behauptung einer zielstrebigen Ausrichtung auf sein Instrument die bequemste Weise war, die in ihn gesetzten Hoffnungen der Quäker zu enttäuschen. Die Älteren vom 15th Street zahlten seine Studiengebühren ja sowieso.
In Boston trennten sich zwei Freundinnen von ihm, weil sie nicht glauben konnten, dass ein Junge, der bis zum achten Lebensjahr Eltern gehabt hatte, sich nicht an ihr
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