Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
verankert hatte, dass auch dieser kaum etwas anderes ausstrahlen konnte. Scheiß auf Murphy, der Sergius in einen Krieg des Lamms gelockt hatte, ohne je zu erwähnen, dass das Lamm Jesus war, und scheiß auf ihn wegen seiner unversteckbaren und unheilbaren Hasenscharte, die Sergius von Anfang an nur Vorwürfe gemacht hatte, weil er die Entstellung nicht übersehen konnte. Scheiß auf ihn, letztendlich, weil er alles war, was Sergius hatte, was nicht genug war.
Was hatte er davon, wenn er Murphy verachtete? Nichts.
Murphy hatte nur nicht aus seiner Haut gekonnt. Er konnte nur lehren, was er lehrte, und Sergius hatte es nicht geschafft, das zu lernen. Denn was wäre Murphys allererste Lektion gewesen, wenn Sergius nur aufgepasst hätte? Dass der Pazifismus und die Musik nach Nicaragua geflogen und dort zerstört worden waren. Und was hatte Murphy ihm danach bieten können? Pazifismus und Musik.
Denn das Lamm, das sich zu den anderen Tieren lagert, wird verschlungen.
Der Stier, der in die Arena gezogen wird und den Kampf verweigert, wird trotzdem geschlachtet.
Der Zeitpilot, der nie einen Schuss abgibt, bleibt auf dem untersten Level hängen, und seine Feinde werden so zahlreich, dass ihm irgendwann die Luft zum Atmen ausgeht.
—
Sergius trat an jenem Tag ins Zimmer und sah sich den Resten von Rose gegenüber, die aufrecht in einem Sessel saß und eine hell gemusterte Nylonbluse mit weiten Aufschlägen und eine schwarze Hose trug, was wie das Kostüm aussah, dass man einer Marionette um die skelettartigen Glieder legte. Ihre schwarzen Augen glänzten, das einzig Lebendige über den blassen und schlaffen Wangen. Ihr Haar wies immer noch schwarze Strähnen auf und wurde von derselben Pflegerin zu einem Knoten hochgebürstet, die ihr wohl auch beim Anziehen und dann in den Sessel geholfen hatte – denn sie war da bestimmt für ihren Besucher postiert worden. Und jetzt kündigte die Pflegerin ihn an: »Schauen Sie, Miss Rose, Sie haben Besuch von Ihrem Enkelsohn.«
»Hallo, Rose. Ich bin’s, Sergius.«
Sie gab ein Geräusch von sich, ein schnaubendes Stöhnen, das tief aus der Brust empordrang, das Aufflackern einer düsteren Heiterkeit.
»Ich lass Sie beide allein«, sagte die Pflegerin, und dann waren Rose und er unter sich.
»Tut mir leid, dass ich dich nicht früher besucht habe.«
»Wer?«, wollte sie wissen.
»Sergius. Dein – Miriams Sohn.«
»Wer?«
Die Augen durchbohrten ihn, die Unterlippe hatte sie zu einem sarkastischen Lächeln verzogen, auch wenn ihr längst kein Sarkasmus mehr zu Gebote stand. Oder aber er war das einzige, worüber sie noch verfügte.
Vielleicht wäre es gut gewesen, Stella Kim dabeizuhaben, selbst wenn sie mit Miriam verwechselt worden wäre. Durch eine Kette von Ähnlichkeiten hätte Rose vielleicht etwas von der Bedeutung des Augenblicks erhascht. Sergius und Rose, zwei Blutsverwandte, jeder der letzte des anderen. Nein, sagte er sich. Ich habe noch meine nutzlosen Gogan-Onkel. Und Rose hat Schwestern in Florida und Kusinen in Tel Aviv. Meine Großtanten und Vettern, die ich bloß nicht kenne. Stella Kim hatte aber gesagt, dass die sich kaum noch bei Rose meldeten. Wer konnte es ihnen verdenken, wenn man sie so sah? Was hatte er hier bloß zu suchen?
»Ich bin in Pennsylvania zur Schule gegangen, deshalb konnte ich nicht … und als sie dann tot waren …«
»Wer?«
»Schau mich an«, schlug er vor. »Du hast immer gesagt, ich würde Albert ähnlich sehen. Deinem Mann.« Aus dem verzweifelten Wunsch heraus, erkannt zu werden, riskierte er Grausamkeit.
»Wer?«
Die strahlenden Augen und die sardonische Grimasse strahlten eine Übertragung aus der unrettbaren Welt aus. Der Rest, ausgebleicht und gefälscht, aufrecht wie eine Attrappe, ihre Eulenschreie, all das war vielleicht die Folge seiner gedächtnislöschenden Verbrechen. Die Toten drängten sich im Raum zwischen ihnen und konnten keine Namen liefern.
So überraschend, dass Sergius sich vor Schreck verschluckte, brachte Rose dann plötzlich einen ganzen Satz heraus, und ihre Stimme warso deutlich und kommandierend wie damals, als sie den Fünfjährigen zum Zittern gebracht hatte.
»Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie lang mein letzter anständiger Stuhlgang her ist?«
»Nein«, brachte er endlich heraus.
Sie kniff die Augen zusammen und zischte die Pointe. »Nichts als Popel.« Die Fülle von Roses Verachtung wurde durch dieses unzureichende Produkt der einst furchteinflößenden Maschinerie ihrer
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