Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Willenskraft noch gesteigert. »Ich drücke stundenlang. Popel, wie du sie aus der Nase schnaubst, Cicero.«
Der Name sagte ihm nichts. »Ich bin Sergius, Rose. Dein Enkel.«
»Wer?«
Immer wieder gerieten sie in diesen Teufelskreis wie Strudel im Abfluss. Er nannte Rose die Namen seiner Eltern, erwähnte Onkel Lenny, sprach von Sunnyside und erntete jedes Mal schallendes Gelächter. Denn dafür hielt er jetzt die grunzenden Seufzer aus ihrer tiefsten Brust – Versuche zu lachen. Der Geist einer gackernden Zufriedenheit, ihren Besucher überlistet zu haben. Den unbekannten Namen hatte sie jetzt schon zweimal genannt. Cicero? War der Philosoph ihr imaginärer Freund? Es gab keine Bücher im Zimmer. Die Tiefe von Roses Blick war undurchdringlich. Vielleicht war es auch keine Tiefe, sondern nur ein Phantom von Tiefe. Vergesst nicht, auf dass ihr nicht vergessen werdet. Er hatte das dringende Bedürfnis, etwas aus ihrem Zimmer zu retten, das Souvenir einer Ruinenbesichtigung. Vielleicht hatte sie ihre alten Lincoln-Devotionalien noch, die Medaillons, mit denen sie ihren Schrein geschmückt hatte. Lennys Penny-Alben hatten Roses Fetisch für Sergius am Leben erhalten, weil der Spott seines Onkels ihn nicht sterben ließ: »Deine Bubbie bevorzugt König Abraham mit einer Dornenkrone. Der Cent, siehst du, das ist der Lincoln des Volkes.«
Sergius wühlte in ihrem Nachttisch. Er fand nur dreckige gelbe Karteikarten, Überbleibsel eines alten Adresssystems; jeder Eintrag war auf einer Schreibmaschine getippt und von Hand ergänzt worden,wobei sich Roses Verfall am Niedergang ihrer Schreibschrift ablesen ließ. Die Anmerkungen hielten Identitäten fest, sprachen Urteile oder berichteten Schicksale: »Cousin zweiten Grades«, »Bibliothekstreuhänder«, »meldet sich nie«, »geschieden«, »Hass«, »tot«. Ganz unten in dieser Müllschublade, unter ein paar Genesungskarten mit Blumenmotiven stießen Sergius’ Finger auf etwas Weiches. Ein zerfleddertes Büchlein aus Kalbsleder. Es war ein stockfleckiges Lebensmittelmarkenheft vom US -Büro für Preiskontrollen (Jeder Verstoß gegen die Lebensmittelrationierung nimmt einem anderen seinen Anteil und verursacht Entbehrungen und Unmut. Ein solches Verhalten hilft dem Feind ebenso wie Verrat …) und war in Tinte von Hand beschriftet: »Zimmer, Miriam Theresa« und »Alter 5 Monate«.
Theresa? Seine Mutter hatte einen zweiten Vornamen gehabt?
Warum Theresa?
Warum war das alles bloß so willkürlich?
Sergius floh.
»Na, Junge, wie ist es gelaufen?« Er hatte keine Vorstellung davon, wie lange er bei Rose gewesen war, aber Stella Kim zertrat schon den zweiten Zigarettenstummel und schob die beiden Kippen jetzt mit dem Absatz unter die Parkbank, auf der sie gewartet hatte.
»Weiß ich nicht recht.«
»Konnte sie reden?«
Er dachte an den Stuhlgang. »Nein.«
»Hat sie dich erkannt?«
»Ich glaube, sie hat mich Cicero genannt.«
Stella Kim lachte auf. Alle lachten. Wahrscheinlich lachten auch die Toten. »Ja, das kommt hin«, sagte sie.
»Warum soll das hinkommen? Wer ist Cicero?«
Sie erklärte es ihm.
Was hatte Miriam Zimmer Gogan auf dieser von Stiefeln zertrampelten Berglichtung in der Abenddämmerung ihres Lebens bloß zu verteidigen? Allenfalls die letzte zu sein, die sie kannte und wusste, was passiert war. Sie musste die Grenzen und die Integrität ihres Ichs bis zu ihrer privaten Ziellinie aufrechterhalten. Einen entscheidenden Abstand zu Fred dem Kalifornier wahren, der in seinem Zelt jetzt mit weiß-der-Geier-was beschäftigt war, in dieser Urwald-Sackgasse, unter den Sturzfluten der Gerüche und Schreie des Bergs bei Anbruch der Nacht. Miriam hatte jetzt dreimal erlebt, wie die Nacht ihre Schrecken ankündigte, seit sie León mit dem Jeep verlassen hatten und in den Regenwald mit seiner seltsamen Mischung aus Pinien und Bananen vorgedrungen waren, plötzlich auftauchenden Sümpfen und im Geheimen lauernden Getreidefeldern. Seife oder fließendes Wasser hatte sie seit León nicht mehr zu Gesicht bekommen: Wie konnte er sie da nur wollen? Aber er stank schlimmer. Ihr Gestank würde von seinem übertönt. Sie würde bei ihrer eigenen Szene unter der Vorbühne aus Laubbaldachin und Kondensstreifen Regie führen. Ihre Absichten und Kräfte als Menschenführerin sammeln, unbeeinträchtigt von Verstümmelungen, die Fred der Kalifornier ihr vielleicht beibringen wollte. Das Entzücken würde sie dem faschistischen Schwein verweigern. Vielleicht noch eine
Weitere Kostenlose Bücher