Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
damals ein waschechter New Yorker und hatte noch keinen Führerschein – auf eine Tour zu den Klappen und umfunktionierten Toilettenkabinen der Raststätten am New Jersey Turnpike mit: die J. Fenimore Cooper Rest Area, die Joyce Kilmer Rest Area, die Clara Barton Service Area und die besonders fruchtbare und treffend benannte Walt Whitman Service Area.
Da Ianoletti Ciceros Fahrprobleme kannte, überreichte er ihm an einem warmen Sommerabend im Mai sein Abschiedsgeschenk zum Semesterende, indem er mit ihm in die Stadt seiner Jugend fuhr, injene Richtung, der Cicero seit den Toden seiner Eltern eine tiefgekühlte Schulter gezeigt hatte. Nach einem leckeren, aber bewusst leichten Abendessen in einem italienischen Restaurant an der Hudson Street machte Ciceros großzügiger Liebhaber ihn mit den Lastwagen bekannt, die sich in den Schatten entlang des schlaglochübersäten West Side Highway versteckten, ohne Fracht parkten und offenstanden, um Möchtegerndiebe von Vandalismus abzuhalten, und zeigte ihm, was in den Lastern und in ihrem Umkreis allabendlich vor sich ging. Dort entdeckte Cicero – nicht als Theorie, Prinzip oder Gerücht, sondern mit Augen, Ohren, Nase, Händen und Schwanz – die ungenierten homosexuellen Bacchanalien, die in dem kurzen Geschichtsabschnitt zwischen Stonewall und der Seuche möglich geworden waren.
Obwohl er sich von diesem Zeitpunkt an sowohl in Princeton als auch während seiner Dozentur an der Rutgers, in Gesellschaft von Gastprofessoren oder allein bei Konferenzen offen zeigte für Begegnungen mit Wiedergängern von Ianoletti und außerdem den Führerschein machte, war Cicero dann jahrelang Stammgast bei den Lastern.
Er schämte sich überhaupt nicht wegen der dunklen Seite. Nur blieb sie während seiner Besuche eben dunkel, auch für Cicero selbst. Das Gegenstück definierte sie: Wear your love like heaven, aber das, was diese Liebe ausmachte, war vielleicht mehr als das, was von der Erde aus sichtbar oder vorstellbar war. Für ihn war der springende Punkt, dass er einen Mond mit zwei Seiten erforschte. Wenn Cicero auf der Sonnenseite mit kritischem Scharfsinn nachdachte, Literatur und Philosophie als Dokumente einer Spezies las, die nach Selbsterkenntnis strebte, was war das dann anderes als das Bemühen, jene Fassungslosigkeit auf den Begriff zu bringen, die sich ob seiner flüchtigen Eindrücke der wahren menschlichen Freiheit auf der dunklen Seite einstellte? Was war Theorie, was war sein unersättliches Sichten der aufeinanderfolgenden theoretischen Bezugssysteme von Nietzsche, Barthes, Lacan und all der anderen denn anderes als der Versuch, dasNetz der Sprache über das prachtvolle andere Leben zu werfen, in dem Körper auf unvergleichbare Weise in- und miteinander verschmolzen?
All das hatte auf Ciceros Vollendung gewartet, denn vor der Flucht aus Sunnyside, der öffentlichen Schule und dem Gravitationsfeld von Diane und Douglas Lookins’ Heim wäre er dazu nicht imstande gewesen. Erst nachdem er seinen Platz an der Sonne erobert hatte, konnte Cicero es sich leisten, dem Sog der dunklen Seite nachzugeben und die Farbenpracht, die Krater, Felsnasen und Kieselsteine zu differenzieren, die nur im Dunkel zu erkennen waren. Mit anderen Worten, ob er es sich eingestand oder nicht, er war Rose zu Dank verpflichtet ! Für Princeton, ja, aber auch für Nietzsche und sogar für David Ianoletti. Für die Laster an den Molen der West Side. Er hatte Rose und Miriam zu danken, nur war Miriam nicht mehr da, und bei ihr konnte sich Cicero nicht mehr revanchieren.
Hier jedoch waren Gegenleistungen möglich. Die Sozialarbeiterin rief an. Rose sei wieder bei Verstand oder jedenfalls so zurechnungsfähig, dass sie dringend Besuch brauchte. Ein bekanntes Gesicht als Bezugspunkt, an dem sich die Reste ihres Ichs orientieren konnten. Die Sozialarbeiterin gab Cicero zu verstehen, dass er sich durch sein Erscheinen und das Unterschreiben der Formulare der Foucaultschen Maschinerie der sozialen Dienste ausgeliefert hatte. Rose Angrush Zimmer – oder der Geist, der ihren Platz eingenommen hatte – brauchte diesen Rettungsanker in der Menschenwelt. In Ordnung. Cicero würde ihr Rettungsanker werden. Er würde regelmäßige Spritztouren nach Queens machen, auch wenn er sich geschworen hatte, nie wieder einen Fuß in diesen Stadtteil zu setzen. Warum nicht? Er fuhr ja sowieso in regelmäßigen Abständen mit dem Zug in die Stadt. Und so wanderten seine Besuche bei Rose im Garten ihres Verfalls
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