Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
unterschätzt hatte, und war schon mehr als halb bereit zu der Zusage, die er, als er dieses Büro betreten hatte, keineswegs hatte geben wollen: nicht nur als Roses vorübergehender Vormund zu handeln, sondern sogar als ihr, ja, Ersatzschwiegersohn, alleiniger Fürsprecher, Totemtier. Der letzte Begleiter ihres Lebens und Reservepitcher für sowohl Douglas Lookins als auch Archie Bunker. Rettungsanker hatte die Sozialarbeiterin das genannt. Er hatte im Moment absolut kein Bedürfnis, sich selbst für diese Rolle zu nominieren, und glaubte, nur eingewilligt zu haben, die Formulare zu unterschreiben, die es den Ärzten beim Hausbesuch erlaubten, ihre durchblutungsbedingte Verstopfung operativ zu beheben, was, wie ein Diagnostiker angedeutet hatte, auch ihre kognitiven Funktionen und damit ihr emotionales Thermostat reanimieren könnte, so dass sie imstande wäre, das Ruder wieder selbst auf den Kurs ihres Lebensabends zu legen.
Cicero bezweifelte es, aber versuchen sollten sie es ruhig.
Er wollte bloß nicht derjenige sein, der sie darüber informieren musste, dass es keine Wohnung mehr gab, in die sie zurückkehren konnte. Dass etwaige Hoffnungen auf ein Leben außerhalb der Lewis Howard Latimer Care Facility von der Gastfreundschaft einer ihrer verheirateten Schwestern abhingen – denen Rose immer gnadenlos die Leviten gelesen hatte, weil sie sich in ihrem erstickenden Konformismus nach Florida abgesetzt hatten. Ihre Nachkommen lebten vielleicht noch, aber ihr Zartgefühl war dahin. Nein, nachdem er erfahren hatte, dass Rose nahezu komatös war, unterschrieb Cicero, was zu unterschreiben war, ging und lehnte die freundliche Einladung ab, doch einen kurzen Blick auf sie zu werfen. Er verließ die triste Anstalt, steckte die Krawatte in die Jacketttasche und suchte die nächstbeste Pizzeria. Aß zu Roses Ehren ein Stück Queens mit extra viel Käse – ihre Standardnahrung neben Gemüsesaft – und ging dann zur Linie F. Denn wenn dieser Zwangsbesuch ihn nun schon mal nach New York City geführt hatte, konnte er auch noch in Manhattan Zwischenhalt machen, bevor er in den Jersey Transit sprang. Und so machte er sich zum West Side Highway auf, um ein bisschen Schwanz zu lutschen. Oder lieber ein bisschen mehr.
—
Der Mond seines Lebens hatte zwei Seiten, eine helle und eine dunkle. Die sonnenbeschienene: seine zunehmende Beherrschung einer Terminologie, mit der sich die im Alltagsleben unhinterfragten Selbstverständlichkeiten in theoretische Begriffe überführen ließen, die Grundbedingung seiner kritischen Schonungslosigkeit. Cicero Lookins machte ein Seminar platt, wie er einst in der sechsten Klasse seine Schachgegner plattgemacht hatte, indem er erst ihre Bauern pulverisiert und dann ihre Offiziere wie Bauern behandelt hatte. Im hellen Licht von New Jersey, in Seminarräumen, Büros mit Bücherwänden und Hörsälen, wo er die Sprecher mit seinen beharrlichen, aber immerrespektvoll formulierten Nachfragen filetierte – im Schein dieses Lichts hatte Cicero die Aufmerksamkeit seiner Mentoren auf sich gezogen. Unter ihrer Ägide hielt er Vorträge auf Konferenzen und veröffentlichte Aufsätze. Dann fing er, ohne eine Erlaubnis abzuwarten, mit seiner ersten Monographie an und machte seine Mentoren zu seinesgleichen.
Die dunkle Seite? In sein zweites Leben hatte ihn ein anderer Mentor eingeführt, ein gastierender Postdoktorand namens David Ianoletti, ein zweiunddreißigjähriger italienischer Jude, dessen früher Kahlkopf von der wilden dunklen sonstigen Körperbehaarung wettgemacht wurde, die aus Halsausschnitt und Ärmeln herauswucherte und den glatten schmächtigen Körper ähnlich isolierte, wie Cicero von seiner pigmentären Üppigkeit isoliert wurde: Ohne Kleider waren beide nicht nackt. Ianoletti lotste Cicero aus der Jungfräulichkeit des Viertsemesters heraus, heraus aus der idiotischen Beklommenheit, hier in Jersey würde ihm nie mehr gestattet, als allenfalls eine theoretische Homosexualität zu leben, und er führte ihm vor, dass sein Eden der Gelehrsamkeit kein Kloster sein musste.
Die Erfahrungen, die Cicero ein paarmal auf Schultoiletten in Sunnyside gesammelt hatte, waren auf der anderen Seite des Hudson River nicht ausgeschlossen. Die Grenze! Der Fortschritt nach Westen, klar? Was genau Lewis und Clark seiner Meinung nach denn wohl im Sinn gehabt hätten? Oder Allen Ginsberg, was das anging? In diesem Geiste nahm Ianoletti Cicero in seinem Toyota Corolla – Cicero war in der Beziehung
Weitere Kostenlose Bücher