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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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nicht zu ihr setzen und sie füttern. Wir räumen die vollen Tabletts wieder ab. Vielleicht isst sie etwas, wenn Sie mitessen. Vielleicht; er war gern bereit, es auszuprobieren. Er trug die Tabletts ins Zimmer, wo man ihr geholfen hatte, sich auf einen Stuhl neben dem Bett zu setzen, und sie wartete schon, fertig angezogen und mit gekämmten Haaren und glänzenden Augen vor Vorfreude und Scham anlässlich seines Besuchs. Er nahm den Deckel vom Tagesgericht, Eiersalat auf Weißbrot, Makkaroni mit Käse-Sahne-Sauce. Nahm die Papierserviette vom Apfelsaft und sagte ihr, der Milchreis wäre gar nicht mal schlecht. Sie kostete ein, zwei Bissen, spähte zu ihm rüber, und alle Quellen der Skepsis und der Kritik sprudelten noch munter in ihrem Lächeln. Der Blick, mit dem sie einst amerikanische Braunhemden und von Immobilienhaien bestochene Polizisten kleingemacht hatte, richtete sich jetzt gegen Ciceros übertriebene Reklame für den Milchreis.
    Rose hatte ihre Sinne wieder beieinander. Wenn Cicero kam, erkannte sie ihn. Rose Angrush Zimmer hatte ein Comeback vom Bett ihrer Gebrechen geschafft – nur kann man sich nicht über den Ausgangszustand hinaus wieder hocharbeiten. Sie hatte ihre Bosheit zurück, sie hatte ihre Verdrossenheit zurück, sie hatte ihre Paranoia zurück. Allerdings waren das Milieu und die Akteure, die einst ihre Reaktionen organisiert hatten, jetzt in alle Himmelsrichtungen verstreut. Erneut strafte sie das ganze 20. Jahrhundert mit Schweigen, aber das kündigte, bevor sie es feuern konnte. Ronald Reagan war Präsident, und die Geschichte war in den Wahnwitz gepurzelt. Sie hatte dem Jahrhundert schon vor allzu langer Zeit den Abschiedskuss gegeben. Sunnyside? Unterernährung und Umnachtung hatten die Autorität ihrer Bezirksstreife zerstört, und stattdessen patrouillierte sie Erinnerungen ab, versuchte, gegen ehemalige Nachbarn und Genossen aufzuhetzen – gegen die Verräter im Bibliotheksvorstand, gegen einen irregeleiteten zionistischen Lebensmittelhändler, der 1973 gestorbenwar, gegen einen Betriebsratsvorsitzenden bei Real’s Radish & Pickle, der 1957 zur Kommunistenhetze gegen sie angestiftet hatte.
    Roses einzige Tochter war tot. Dass niemand den Tod des eigenen Kindes überleben sollte, war ein verführerisches Motiv, gleichzeitig aber so allgemeingültig, dass es sie offenkundig unbefriedigt ließ, selbst während sie die Tote beklagte. Sie ließ das Thema schon bald auf sich beruhen. Wem sollte man unter diesen Umständen schon Vorwürfe machen? Gott? An den man nicht glaubte? Sie war unersättlich in ihrer Suche nach einem besseren Feind als dem alten, inexistenten Jahwe; als Ersatz boten sich die jamaikanischen Pflegeschwestern an. Die hatten sie hier eingesperrt, die hatten ihr Bargeld aus dem Nachttisch gestohlen, die waren neidisch auf ihre Kleider. Zwischen den Verhören dieser Frauen, die nur ihre Bettwäsche wechselten, sie mit dem Schwamm wuschen und sie manchmal anwiesen, sich anders hinzulegen, damit sie sich nicht wundlag, verfiel Rose auf uralte Archetypen der Feindseligkeit. Sie entdeckte wieder Trotzkisten: Cicero erwies sich als einer, als er ihr die Ausrichtung seiner Forschungen zu erklären versuchte. Und Nazis. Ihr Hungerstreik richtete sich womöglich hauptsächlich gegen Nazis.
    »Was gäbe ich nicht für eine richtige Schweineleberwurst auf Roggenbrot«, seufzte sie einmal, nachdem sie einen eislöffelgroßen Klacks Thunfisch auf zerpflücktem Eisbergsalat abgelehnt hatte.
    »Soll ich dir welche besorgen?«
    »Selten so gelacht. Deutsche Leberwurst hab ich seit 1932 nicht mehr gegessen. Aber die haben wirklich alles am besten gemacht – wenn ich die Augen schließe, hab ich den Geschmack heute noch im Mund.«
    »Wenn ich mich ein bisschen umsehe, kann ich vielleicht ein Sandwich mit US -Leberwurst für dich auftreiben.«
    Sie winkte ab. Die Konversation war erloschen. Beim nächsten Besuch brachte er ein Sandwich mit Leberwurst mit. Keiner deutschen, wie er ihr versicherte.
    »Wieviel hast du dafür bezahlt?«, fragte sie nach dem ersten Bissen.
    »Spielt doch keine Rolle, Rose.«
    »Egal wieviel du bezahlt hast, man hat dich über den Tisch gezogen. Nur die deutsche ist gut.«
    »Aber die deutsche würdest du nicht essen.«
    »Draufspucken würd ich.«
    Die Leberwurst wurde trotzdem gegessen. Ihr Essclub wurde so um die Last der Tabletts erleichtert. Er schaffte Lasagne und Borschtsch herbei, Piroggen und Pastrami, alles nach ihren Launen; er importierte

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