Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
Vom Netzwerk:
auf seine dunkle Mondseite, wurden ein Element des Teils von Ciceros Leben, der in Princeton unbekannt war. Die Konvergenz war ganz natürlich, denn für seine Kollegen und Mentoren, für die diversen grauen Casaubons in seinem Dissertationsausschuss, wären beide Erklärungen gleichermaßen unvereinbar gewesen.
    »Schauen Sie, es gibt da diese Laster, die ohne Sinn und Zweck offenstehen, die Männer kommen von überall her, und niemand organisiert, was da vor sich geht … neulich Abend bin ich zum Beispiel von ein paar Fremden hochgehoben worden, ja, ich schwebte einfach in der Luft, hatte das seltsame Gefühl, mich ihren Händen anvertraut zu haben, während ein anderer Mann mir den Schwanz lutschte –«
    »Na, es gibt da in Queens diese alte Frau … Sie würden sie eine Jüdin nennen, aber lassen Sie sie das bloß nicht hören. Sie war ein knappes Jahrzehnt lang die Geliebte meines Vaters –«
    In Ciceros Phantasiebefragung, dem Rigorosum seiner dunklen Seite, fuhr der Prüfer fort:
    »Woher rührt Ihre Anhänglichkeit dieser alten Jüdin oder Nichtjüdin gegenüber – ist diese auf eine gewisse unerklärliche Liebe zurückzuführen?«
    »Nicht mehr als auf einen gewissen unerklärlichen Hass.«
    »Sie fühlen sich ihr also verpflichtet?«
    »Mein Vater konnte mir nur wenig beibringen, außer dass ich niemandem verpflichtet bin.«
    »Dann ist Verpflichtung das falsche Wort. Schlicht und einfach Schuldgefühle?«
    »Kann sein.«
    —
    Seine erste Aufgabe bestand darin, in den Keller von Roses Haus hinabzusteigen und ihre Habseligkeiten zu sichten. Er tütete die Garderobe ein, die sie noch brauchen konnte – Nachthemden, Unterwäsche, flache Schuhe und die schlichteren Polyester-Hosenanzüge, die in den letzten Jahren alle anderen Kleidungsstücke verdrängt hatten. Er sammelte ihre Papiere ein, die Karteikarten mit Adressen, ein paar Andenken, Fotos und Belanglosigkeiten, ein Lebensmittelmarkenheft aus dem Zweiten Weltkrieg – die ganze Sammlung war dürftiger, als er gedacht hätte. Er fand ein Foto aus seiner Schulzeit, aus der sechsten oder siebten Klasse, auf dem er für ein falsches Lächeln die Zähne fletschte und fast von einer Krawatte erwürgt wurde, die ihm seineMutter gebunden hatte. Nichts, was auf seinen Vater hindeutete. Keine Liebesbriefe irgendwelcher Art. Roses Bücher waren schon von einer unsichtbaren helfenden Hand dezimiert worden – »ein Nachbar«, erklärte der desinteressierte Hauseigentümer, der die Wohnung schon wieder neu vermietet hatte –, der überwiegende Teil war wie auch ihre LPs mit klassischer Musik einem nahegelegenen Secondhandladen gestiftet worden. Von ihren politischen Büchern war nichts mehr zu sehen, kein Engels, kein Lenin, kein Earl Browder, und auch der Lincoln-Schrein war verschwunden, nur fünf oder sechs Bände waren übriggeblieben, die irgendjemand für wichtig gehalten haben musste: ein zerfallenes jüdisches Gebetsbuch, drei Romane von Isaac Bashevis Singer und Irving Howes Die Welt unserer Väter  – Singer und Howe, nahm er an, waren unerbetene Geschenke von Roses Schwestern, aber warum hatte man sie hier gelassen, wenn alles andere fort war? Hatten sie auf dem Nachttisch gelegen? Hatte sie sie gelesen? Oder verriet sich darin die Hand eines jüdischen Bearbeiters? Er fand auch Moses Maimonides’ Führer der Unschlüssigen; es wäre wohl eine Überinterpretation gewesen, in letzterem einen Witz des Sortierers über Roses gegenwärtige Demenz zu sehen. Cicero packte die Bücher, die Kleider und die anderen kümmerlichen Hinterlassenschaften in den Kofferraum eines Taxis, um damit ihr neues Leben auszustaffieren. Die Möbel, den klobigen Fernseher und das Sideboard mit der Stereoanlage konnte sie nicht brauchen, und sie wären im Pflegeheim sowieso verboten worden, also ließ er sie zurück. Falls sie fragte, würde er lügen und sagen, Fernseher und Stereoanlage hätte er selbst genommen, und nicht wahrheitsgemäß, dass er sie der polnischen Familie geschenkt hatte, die jetzt ihre ehemaligen Zimmer bewohnte. Damit ersparte er sich ihre Philippika.
    —
    Bei seinen ersten Besuchen bildeten sie einen Essclub der erbärmlichsten Sorte. Die Pflegerinnen redeten ihm gut zu, und so ging er immer mit zwei Essenstabletts in ihr Zimmer. Sie kommt nicht in den Speisesaal, erklärte man ihm. Das verwirrt sie. Verwirrung war vielleicht nicht der Hauptgrund, dachte er, sagte aber nichts. Wir stellen ihr Tabletts ins Zimmer, aber wir können uns

Weitere Kostenlose Bücher