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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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ging, geriet er fast in Panik. Wie klein Rose geworden war! Aber vielleicht war sie auch immer so klein gewesen und nur in seiner Phantasie eine Riesin. Aber jetzt, entkräftet. Nach den hiesigen Sterbebettstandards hatte sie ihre Vitalität zurückgewonnen,so dass er sich etwas vorgemacht hatte. Hier in der Außenwelt hatte er den Eindruck, die leiseste Bö des nach Müll stinkenden Winds könnte sie vom Gehweg fegen – auch in alle Schale geworfen, die ihr geblieben war, und ermutigt von seinem Spruch, Warum nicht, schauen wir uns ein Spiel der Mets an. Wie hatten sie ihn bloß überzeugen können, dass sie für einen Ausflug fit genug war? Warum hatte Cicero ihnen geglaubt? Aber er schaffte es, sie in einen Zug der Linie 7 zu verfrachten.
    Wie ein Kind bestand Rose in der U-Bahn darauf, an der Doppeltür stehenzubleiben und nach den nächsten Bahnsteigen Ausschau zu halten, jeder ein Stück Gehweg, von der Erde getrennt und auf Stahlträgern aufgebockt. Sie suchte die Skyline des Shea Stadium, der Sterno-Dose mit den Pflasterstreifen aus Orange und Blau, die sich schon zwei Haltestellen vor Willets Point ins Blickfeld schob. Als Cicero ihre Lebensgier sah, ging ihm auf, wie sinnvoll die Aufforderung der Pflegeschwester gewesen war. Er hatte die Kosten von Roses Einfriedung unterschätzt. Er selbst genoss auf eigenartige Weise die Reizabschirmung dieser Besuche, sein Interesse, das hinter einer nüchternen Analyse oder einer Art Bußpraxis zu einem körperlichen Auskosten dessen geworden war, was er nur den Geruch des Todes nennen konnte. Vielleicht beerdigte er gerade in Zeitlupe seine Eltern. Oder vielleicht war es auch ein Pawlowscher Reflex, denn für jede Plackerei in Queens belohnte er sich ja mit einem Abstecher ins Reich der Laster an der West Side.
    Sie gingen zum Tagesspiel, umgeben nur von versprengten Grüppchen halbherziger Fans und jugendlicher Schulschwänzer und erfuhren vom Kartenverkäufer – was in diesen Tagen bei den Mets keine schockierende Nachricht war –, dass es in allen Stadionabschnitten noch gute Einzel- und Doppelplätze gab. Noch bevor Cicero den Mund aufbekam, beugte sich Rose vor und sagte: »Oben bei Gott.«
    »Wie bitte?«
    »Der Oberrang. Die billigen Plätze.« Sie hielt die Karten umklammert, ging zum Drehkreuz und führte aus: »Mich würd ich ja reinmogeln,aber du bist zu groß, um dich zu verstecken. Wenn dir die Sicht zu schlecht ist, können wir in den späteren Innings ja auf Feldhöhe runterschleichen.«
    »Hört sich an, als wär das nur für Weiße. Wenn sich der Schwarze in den Oberrang setzt, dann bleibt er da normalerweise.«
    »Dann wirst du die Rosa Parks des Oberrangs.«
    »Hört sich aufregend an. Was hatte das eben mit Gott eigentlich zu bedeuten?«
    Sie zuckte die Schultern. »Das ist so ’ne Redewendung. ›Wo habt ihr beim Spiel denn gesessen?‹ – ›Mensch, du hättest unsere Plätze sehen sollen. Wir saßen oben bei Gott. ‹«
    »Hört sich nach Lenny an.«
    »Nicht alles, was sich nach Lenny anhört, stammt auch von Lenny. Lenny hat übrigens nicht mal Lenny erfunden. Ich hab gehört, die Spieler streiken bald.«
    »Siehst du, Rose? Die Gewerkschaftsbewegung ist nicht tot.«
    Sie tat das mit einer Geste ab; der Gewerkschaftsgedanke war entweder unsterblich oder als Totgeburt zur Welt gekommen. »Die Ärsche von Eigentümern verleumden sie in der Gossenpresse. Was starrst du denn so, Cicero? Glaubst du, ich kann die Sportseiten in der New York Post nicht mehr entziffern? Der einzigen Zeitung, die wir täglich zugestellt kriegen, Gott steh uns bei.«
    »Bin nur beeindruckt, dass du’s auch machst.«
    »Sei nicht so herablassend.«
    War er nicht. Im Gegenteil. Er staunte nur, als er sah, in welchem fast schon furchteinflößenden Ausmaß sie wieder mit Leben erfüllt war, wie ein Schwamm, der sich mit Wasser vollsog und dessen endgültige Größe nicht abzusehen war. Als nächstes würde sie ihn wahrscheinlich am Ärmel packen, und sie würden im Stadion die Runde machen, als wären es die Gehwege und Ladenzeilen von Sunnyside.
    »Da muss es doch einen Fahrstuhl geben«, schlug er vor.
    »Gehen wir. Ich mag die Rampen.« Es war, als hätte der Bahnsteig der Hochbahn Rose inspiriert, sich auf das höchste Niveau zu begeben,egal ob sie ihrem Bezirk nun Vorträge halten oder ihm auf den Kopf steigen wollte. Ganz wie er geahnt hatte, setzten sie sich in den Schatten am äußersten Rand des Stadions, und die Spieler waren ungefähr genauso weit weg

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