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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Bibliotheksvorstands mischten sich mit uralten KP-Kontakten, die sich als Liebhaber tarnten oder umgekehrt. Schwester, erinnerte sie eine Karte. Die Adresse in Flatbush war durchgestrichen und durch eine in Florida ersetzt worden. Dann, in zittrigerer Schrift, TOT . Andere enthielten willkürliche Notizen; Rose hatte sich zu allen möglichen Anlässen Stichwörter notiert. Auf einer Karte stand nur Elie Wiesel HASS . Hätte sie alle Notizen auf einmal lesen oder in ein Hologramm ihres eigenen Kopfs projizieren können, wäre sie wiederhergestellt gewesen.
    Für Miriam gab es keine Karte, daher war sie seit einiger Zeit unerwähnt geblieben. Cicero fiel kein guter Grund ein, sie zu erwähnen. Dasselbe galt für ihren Enkel, der nach Pennsylvania verschwunden war.
    Cicero war besonders dankbar, dass Sergius Gogan keine Erwähnung fand, ein wunder Punkt, bei dem er sich kein Nachbohren wünschte.
    »Wen suchst du denn?«, fragte er jetzt.
    »Einen Polizisten, den ich mal gekannt hab.«
    »Von denen kanntest du so einige.«
    »Nein, nein, vor langer Zeit. Er ist tot.«
    »Was kümmert er dich dann?«
    »Ich … ich möchte, dass er die eine Schwester festnimmt.« Immer dasselbe düstere Fazit ihrer Abstürze: Schwarze Frauen stahlen, was ihr gehörte. Immer dasselbe: Eine ehemalige Revolutionärin phantasierte von Uniformierten, die kalte Gerechtigkeit übten.
    »Wie denn, wenn er tot ist?«
    Sie starrte ihn an, als wäre er ein Idiot, eine Wiederholung ihres allerersten Blickkontakts, ein ewiges Prinzip, das in die Zeit zurückreichte, als sie ihm die erste unerbetene Lektion über die Dewey-Dezimalklassifikation erteilt hatte.
    »Suchst du meinen Vater?«, fragte er schließlich, um sie beide von dieser Klippe zurückzuholen.
    Sie nickte.
    »Weißt du nicht mehr, wie er hieß?«
    »Ich –«
    »Douglas. Soll ich’s dir aufschreiben?«
    »Ja bitte.«
    Er drehte eine zwanzig Jahre alte Karteikarte um und nahm die leere Rückseite, um seinen Vater zu verschlagworten.
    DOUGLAS LOOKINS
    LIEBTE DICH
    TOT
    Die Lücken wurden größer. Gelegentlich fand er sie aber noch redselig vor. An manchen Tagen erzählte sie wie seit fünfzehn Jahren nicht mehr. Cicero nannte das ihre Dementologe, artverwandt mit Dutch Schultz’ Dauerreden auf dem Totenbett oder H. G. Wells’ Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten. Schweizer Käse mit fehlenden Substantiven, aber manchmal blitzte noch ihr alter kryptologischer Elan auf, die Logik, mit der sie in der Essensschlange debattieren konnte. Ohne Vorwarnung legte sie los. »Es ist nicht die Jüdin in mir, die sich in einen Neger verliebt hat, in Douglas. Es ist die Kommunistin.«
    Cicero hatte sein neues Buch fast abgeschlossen und war an seinem Schreibtisch fett und stolz geworden. Oder hatte an Format gewonnen, wie man so sagte, das Seminargewicht und die Schroffheit, die er als Erbe seines Vaters hatte akzeptieren müssen. Sollte Rose ihn doch Douglas nennen, wenn sie wollte. Cicero besuchte sie seltener, sein New Yorker Ritual war eh gekentert, das Wort »Schwulenpest«, das anfangs nur leise gemunkelt worden war, stand jetzt häufiger in der Zeitung. Die Stimmung in den Lastern an der West Side war erst nervös geworden, dann gruselig, und dann waren sie über Nacht entvölkert. Den Jersey Transit zu besteigen, war ein reines Opfer geworden, bestenfalls konnte er Seminararbeiten korrigieren oder ein Nickerchen machen.
    Er machte es sich zur Pflicht, sie am Reden zu halten, wenn sie Lust hatte. »Wie meinst du das?«, fragte er.
    »Das Judentum kann man hinter sich lassen, das passiert ja ständig. Lässt sich von der Parade der amerikanischen Sieger aufsaugen. Der kommunistische Teil hat keine Wahl, er ist, was er ist, er geht nackt oder in Schande – das ist der Neger in mir.«
    »Gefällt mir, wie du denkst«, sagte er. »Aber du solltest vielleicht etwas leiser sprechen.« Er warf einen Blick Richtung Korridor, in den sie überhaupt nicht mehr vorstieß. »Und auch nicht nackt gehen, okay?«
    Doch nicht alle Fragmente, die ihre Ruinen säumten, ließen sich entziffern. Und wenn sie sich entziffern ließen, waren sie nicht immer plausibel. Sie schweifte in ihre Zeit an der Lower East Side ab, vielblanker Unsinn über Eismänner und Lumpensammler, die Karriere eines Geliebten am jiddischen Theater, und manchmal fragte er sich, ob das überhaupt ihre Fragmente waren. Sie wirkten eher wie aus Howes Welt unserer Väter aufgeschnappt.
    »Hast du wieder in dem Trotzkisten

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