Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
geschmökert?«, neckte er sie, aber das Wort konnte oder wollte sie nicht verstehen. Ein später Flirt nicht nur mit Vater oder Ciceros Vater, sondern dem Heiligen Vater schien den Basso continuo ihres sektiererhaften Engagements zu überschreiben. Sie hatte nämlich auch Moses Maimonides’ Führer der Unschlüssigen gelesen, so absurd das in ihrer Verfassung auch sein mochte. Einmal hatte er sie dabei erwischt.
»Ich kann dir was anderes zu lesen mitbringen, wenn du möchtest.« Er packte Salz-Bagel und Felchensalat aus, aber dieser Tage aß er meist allein.
»Gott erschafft die Welt, indem er aus der Welt geht«, sagte sie.
»Ich weiß, dass ich schwer von Kapee bin, Rose, aber da komm ich nicht mit.«
»Wenn ER hier ist, nimmt ER allen Raum ein. Erst wenn ER fortgeht, entsteht der Möglichkeitsraum für anderes. Dann erst kann all dies Ereignis werden.«
»Und was genau heißt das für dich?« Cicero machte sich auf eine Übersetzung von Moses Maimonides’ Philosophie in die Begriff lichkeit von Roses Verdauungsobsessionen gefasst: Um Platz für ein Festessen zu schaffen, muss man erst mal scheißen.
»Das ist der Grund, Albert, warum es in Amerika nie zur Revolution gekommen ist!« Albert hatte sie ihn jetzt schon ein paar dutzendmal genannt, auch Archie, aber das alles nahm er längst nicht mehr persönlich. Er war zufrieden damit, in Roses Leben der Mann zu sein, ihr Großer Anderer.
»Wieso?«
»Na, der Kapitalismus würde niemals von sich aus verschwinden. Wir können nicht atmen, wir können nicht mal ansatzweise existieren. Er füllt den gesamten Raum aus.«
»Der Gott, der das Scheitern verweigert?«
»Genau!«
»Da hast du dich aber gut geschlagen, Rose. Du hast eine Weile existiert. Das ist aktenkundig.«
—
Im obersten Stock eines Hauses, in dem sich über alle Etagen die Party hinzog, einem clever renovierten Altbau an der Brooklyner Pacific Street, dessen unverputzte Ziegelwände lackiert und dessen Treppenhäuser durch Wendeltreppen ersetzt worden waren, eine Art von Zuhause, wie Cicero es, obwohl er als »eingeborener« New Yorker galt, noch nie gesehen hatte, auch wenn er all den jungen, aus der tiefsten Provinz hereingeschneiten und hier zusammengepferchten Schwuchteln gegenüber so tat, als wäre ihm das nur allzu vertraut, vor den gerahmten Schwarzweißfotografien von Fire Island, den wiederverwerteten Diner-Tischen und der Klavierbank mit Tabletts leerer Gläser, den zertretenen Rinden von erlesenem fromage auf dem Boden, auf dieser Geburtstagsfete für eine ältere Schwuchtel, die offenbar mit der Hälfte der geselligen Runde im Bett gewesen war und die die ersten Zeichen der zehrenden Krankheit zeigte, wo jetzt jemand die Menge beruhigen wollte und die Nadel von der Carly Simon auf der Stereoanlage nahm, so dass man einen Augenblick lang den Sturm draußen toben und an den schlecht verfugten Fensterscheiben rütteln hörte, was einen Chor albern-schreckhafter Huuuuus durch die Party klingen ließ, aber jener jemand wollte die Menge nicht wegen Kerzen und Kuchen beruhigen, sondern drehte den Fernseher lauter und drängte die Feiernden, sich dem dort gezeigten Spektakel zu widmen, Diana Ross, die von einer offenen Bühne im Central Park eine durchnässte Million von Picknickern und Ghettojungen überschaute, Diana Ross, die dem Sturm trotzte und unermüdlich weitermachte, was jetzt zur Hauptattraktion der Party wurde, als wäre sie zu ihrem Entzücken angesetzt worden, einem Entzücken, dem sich jetzt auch Cicero anschlossund sich aufführte, als würde er all die Songs nicht nur von der abgenudelten Doppel-LP Supremes’ Greatest Hits seines Vaters mit dem Kratzer kennen, der »I Hear a Symphony« ruinierte, während der Tänzer Rolando, der ihm vor einer halben Stunde erst erklärt hatte, im Ballett würde man nie auch nur eine Hand heben, ohne an die Parallelebene des dazugehörigen Fußes zu denken, ihm von hinten die große Zehe seines attraktiven nackten Fußes in eine Gürtelschlaufe geschoben hatte – hier, auf dieser Privatparty im Julisturm wurde Cicero nicht nur klar, dass er Rose, wenn er nicht wollte, nie wieder besuchen musste, sondern auch, und das war einiges wichtiger, dass er sie am Vortag zwar angerufen und sein Kommen angekündigt hatte und auch tatsächlich von Jersey hergekommen war, sie heute aber trotzdem nicht besuchen würde.
Er hatte auch sowieso keine Ahnung, wie er mit der Subway von hier zu ihr hätte fahren müssen, und er würde weiß Gott
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