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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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wie die Jets, die im Landeanflug auf La Guardia scheußlich nah kamen. Ihr Abschnitt war so spärlich besetzt, dass niemand mitbekam, dass Rose und Cicero während der Vereinshymne sitzenblieben und weiterquatschten.
    »Hier oben kriegen wir nie im Leben ein Hotdog.«
    »Hol uns doch welche, außer du glaubst, dass die einem Schwarzen kein Hotdog verkaufen. Ich bin ja ein Unschuldsengel, ich kenn mich da nicht aus. Wer ist der Pitcher?«
    »Pat Zachry, Rose. Ich denk, du liest regelmäßig die Sportseiten der Post.«
    »Pat Zachry hat keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.«
    »Je nun, Pat Zachry ist das, was einem Tom Seaver im Zeitalter von Ronald Reagan zustößt.«
    Er ging, nahm die trübseligen Imbissstände in den zugigen oberen Stadionhöhlen in Augenschein und griff Hotdogs, weiche schwere Brezeln und Getränke ab. Dave Kingman schlug im vierten einen Home Run, der keine Punkte brachte, und das dünne Johlen von der anderen Seite des Stadion-Hufeisens drang zu ihnen herüber und klapperte wie Münzen in einem Becher. In den ungeraden Spieldurchgängen ließ Zachry die Runs ausbluten, die ersten Schatten der leichten Streben schlichen über den Pitcherhügel, und das Spiel bekam den einlullenden Rhythmus der Verzagtheit, der ab und zu von einem selbstironischen Johlen durchbohrt wurde.
    »Macht nicht viel her, ist aber ganz nett«, sagte Rose.
    »Ja.«
    »Warum haben wir das nicht schon vor Ewigkeiten gemacht?«
    »Wir machen’s doch heute.«
    »Gehst du nach dem nächsten Aus mit mir rein?«
    »Ist dir kalt?«
    »Ich muss auf die Toilette.«
    Er setzte sie ab, ging auf die Herrentoilette, wo man sich anscheinend, Hallöchen, ganz wie früher beim siebten Spieldurchgang die Beine vertrat. Cicero spürte es hinter sich, als er am Pissoir stand; mehr Kabinen waren besetzt, als der nächstgelegene und fast verlassene Tribünenabschnitt rechtfertigte, aber so lief das ja überall, wenn man nur ein Auge dafür hatte. Der nächste potentielle Partner tauchte auf und verschwand in der letzten freien Kabine. Vielleicht traf man sich am Mittwoch regelmäßig auf dem Oberrang, so verlässlich wie auf der Walt Whitman Service Area, wer wusste das schon? Na, anscheinend viele. Cicero schloss gar nicht erst den Reißverschluss, betrat hinter dem anderen die Kabine, und der irische Dad in den Vierzigern kam schneller, als Pat Zachry die Giants den nächsten Run in Angriff nehmen ließ. Cicero hatte sich den Mund ausgespült und wartete, den Rücken an die kühle Betonwand gelehnt, bevor Rose wieder auftauchte.
    »Cicero?«, fragte sie, als sie wieder auf ihren Plätzen saßen.
    »Hm?« Sie hatten sich noch jeder ein Eis geholt, und er sprach mit dem Holzstengel im Mund.
    »Glaubst du an Gott?«
    Eine saudumme Frage: Hatte Rose ihm vielleicht je eine Chance gegeben, bei dem anzuheuern? Als Cicero soweit war, dass er die entsprechenden Hirnstraßen abschreiten konnte, wartete Roses Skepsis schon an jeder Ecke, hatte das Areal der Einfachheit halber für ihn vorformatiert.
    Nicht dass er deswegen einen Groll gegen sie gehegt hätte. Unter den Tröstungen, von denen er dank Roses Verachtung verschont geblieben war, gab es keine einzige, mit der sich Cicero im Nachhinein hätte beschäftigen wollen. Ihre Interventionen in seine Lebensgeschichte, ihre Eingriffe in seine geistige Entwicklung hatten neben manch anderem eine signifikante Zeitersparnis zur Folge gehabt. Auf den Schultern von Riesen und der ganze Kram.
    »Warum soll ich denn plötzlich an Gott glauben?«
    »Ich hatte gerade den Schiss meines Lebens, darum.«
    »Ich auch«, log er.
    »Was sind wir denn, die korsischen Brüder?«
    —
    Aber so wurde es nie wieder.
    —
    Sechs Monate später fand er sie im Bett vor, nicht bereit, aufzustehen und sich für seinen Besuch anzuziehen, und ihre Karteikarten lagen auf der Bettdecke verstreut. Die fürchterliche Verstopfung war zurück, und ihre Welt war wieder auf die Größe ihres Zimmers geschrumpft oder eher auf die Größe ihres schrumpfenden Oberstübchens. Der Besuch im Shea Stadium war verblasst wie ein Traum. » Hilf mir, Cicero«, sagte sie, nicht flehentlich, sondern ungehalten, als hätte er das jetzt lange genug vernachlässigt. Roses von Hand beschriebene Karten, die Heimat ihrer ramponierten Erinnerungsarbeit, eine Adresskartei, die zu einem in zittrigen Parkinson-Blockbuchstaben verfassten Index der Akteure auf Roses Gedächtnisbühne angewachsen war: Handelsvertreter von Real’s Radish und Mitglieder des

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