Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Schuldgefühle mischten. Das schwarze Haar war am ganzen Kopf auf dieselbe Länge gestutzt, seine Augenbrauen Spülbürsten, der Bart überwucherte die Lippen – alle Haare waren gleich lang, die oben auf dem Schädel und die aus den Ohren sprießenden, als wäre er unter den Rasenmähergekommen. Seine Rückgratverkrümmung hatte etwas Rabbinisches, seine Augen etwas Häretisches. Dass er unter seinem stinkenden schwarzen Mantel Insignien eines Hippies trug – ein durchgescheuertes Woodstock-T-Shirt, einen Vogel auf einem Gitarrenhals, eine zerfranste Schärpe aus Regenbogenwolle als Gürtel der fleckigen Trainingsanzughose –, konnte nicht den Eindruck einer Gestalt auslöschen, die schmerzhaft und allen Widrigkeiten zum Trotz aus einer widerlichen und entwürdigenden Vergangenheit in die Gegenwart gehievt worden war.
Nachdem Miriam wenigstens den Mantel hatte öffnen können, machte ihre Kleidung auf Cicero eher den Eindruck einer Verkleidung als einer genialen Aufmachung: ein gelbes T-Shirt mit einem Groucho-Marx-Siebdruck, das ohne BH unter einer weißen Jeansjacke getragen wurde, Ohrringe mit Peace-Zeichen und eine kleine, rosa getönte John-Lennon-Sonnenbrille. Manchmal fragte sich Cicero, ob Hippies das eigentlich ernst meinten.
Vetter Lenny behielt ihre Nippel jedenfalls im Auge wie die Taschenuhr eines Hypnotiseurs, eine Ablenkung, die Cicero im anschließenden Schachspiel einen Vorteil verschaffen könnte. Aber echt jetzt – Vetter? Ein notgeiler, tragischer Onkel, so wirkte er auf Cicero, der jetzt, die Hände tief in den Taschen seiner Mets-Warmup-Jacke mit Tom Seavers Nr. 41 drauf vergraben, vor ihm stand und ihn anstarrte. Rose hatte zu verstehen gegeben, Lenny sei in Miriams Alter; ihm kam er aber mindestens zwanzig Jahre älter vor. Soweit Cicero das mitbekommen hatte, war er von Lenny noch keines Blickes gewürdigt worden. Als er ihn dann doch ansah, fühlte sich Cicero ertappt, einer kompletten, aber fast gleichgültigen Prüfung unterzogen, als wäre Lenin Angrush ein auf eine Leinwand projizierter Film und kein Mensch, der einen Blick erwiderte.
»Und warum hat keiner mal erwähnt, dass dieser schwarze Bobby Fischer so ein Brocken ist?«
Mit dreizehn Jahren war Cicero es schon gewohnt, von Rose Leuten präsentiert zu werden, die ohne jedes Schamgefühl ihre Urteile abgaben.Und es ließ sich nur eine begrenzte Anzahl von Dingen sagen. Auf Brocken, schwarz und Bobby Fischer war er gefasst gewesen, also pickte er sich das Einzige heraus, was ihn interessierte: »Hast du echt gegen Fischer gespielt?«
»Eine Partie, ein Remis.« Lennys hochzuckender Blick zog Miriams zu Rate. »Weiß er das von dir?«
»Du kannst dir doch wohl denken, dass Rose ihm von Fischer erzählt hat«, sagte Miriam. »Erklären kannst du es ihm selber.«
»Fischer hat unter einem Baldachin gegen zwanzig auf einmal gespielt. Die Gegner saßen, er stakste zwischen uns lang, warf kurze Blicke auf die Schachbretter und zog scheinbar gedankenlos. Wie bei einem Mann, der Ameisen von einem Picknicktisch fegt, so flogen bei ihm die geschlagenen Schachfiguren. Er hat uns platt gemacht. Auf meinem Brett muss er einen Bauern übersehen haben, vielleicht hatte er auch was ins Auge bekommen, was weiß ich, der Tag war windig. Ich hielt mich jedenfalls am längsten und konnte meine Position verteidigen. Aber als er dann seine ganze Aufmerksamkeit mir zuwandte, hab ich doch einen kleinen Dünnschiss in die Hose abgelassen. Ich hab ihm ein Remis angeboten, und er hat akzeptiert. Was weiß ich, vielleicht gab es in seinem Vertrag eine Klausel, nach der er nicht alle seine Gegner demütigen, sondern eine Identifikationsfigur übrig lassen sollte, mit der das Gesindel dann mitfiebern konnte. Vielleicht wollte er es auch bloß hinter sich bringen, vielleicht hatte er Lust auf ein Sandwich. Ich durfte in meinen eingeschissenen Fruit-of-the-Looms jedenfalls ein Remis gegen Bobby Fischer mit nach Hause nehmen. Coney Island, Mai 1964.«
Die im Raum anwesenden Spieler beugten sich Lenny, aber es war schwer zu sagen, ob aus Respekt oder weil sie den Ärger satt hatten. Am Fenster mit Blick auf die MacDougal wurde ein Tisch frei, und Lenny bekam sein Glas Tee. »Du spielst weiß«, befahl er und setzte sich hinter die schwarzen Figuren.
»Du musst keine Nachsicht zeigen«, sagte Miriam.
»Das ist keine Nachsicht, keine Angst. Ich will sein Offensivspielsehen. Wenn er keins hat, ist er ein Nichts. Nach seinem Outfit ist er ein Stürmer,
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