Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
gewesen, eine Handlung so jäh, wie wenn James Bond auf den Knopf des Schleudersitzes drückt. Cicero hatte es schon oft nirgends hingebracht, auf dem Queens Boulevard, an der Skillman, der Jackson, der Greenpoint Avenue, in Roses Gesellschaft, im Strom von Schulkindern oder allein, was alles auf dasselbe hinauslief. Nirgends, nichts, niemals: Nur in sich war Cicero immer noch zu Hause. Und auch dort kaum. Cicero erweiterte Lennys vernichtendes Urteil um einen Schwur: Schwarze oder weiße Figuren – nie wieder würde er Schach spielen. Er betastete den Zinkpenny unten in seiner Hosentasche. Amerikanisches Geld war eine Lüge. Die Mets ein Tatort. Lenny faszinierte Cicero mit seinen Anspielungen auf Geheimwissen, Geschichte als ein Drama der Lügen. Vielleicht hatte ihm das einen Ständer beschert.
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Miriams Missionseifer war ungebrochen: Ihre Wahrsagerin würde Ciceros Schicksal entkorken. Er war am 20. Januar 1956 morgens um 1.22 Uhr zur Welt gekommen, was auf seiner Geburtsurkunde festgehalten worden war. Miriam hatte ihn angewiesen, deren zweimal gefaltete schwarze Fotokopie mitzubringen, und am Morgen hatte er sie aus der Schublade geholt, in der seine Mutter ihre ganzen Andenken an seine Babyzeit aufbewahrte, und heimlich in der Hosentasche verschwinden lassen, weil er keine Lust gehabt hatte, Diane Lookins erklären zu müssen, was ihr Sohn an diesem Tag alles vorhatte. Als sie durch das staubige Treppenhaus des Loft-Gebäudes hochstiegen und von Sylvia de Grace hineingebeten wurden, Miriams stark parfümierter, runzliger, seidenbeschalter und französischer (vermutlich eher »französischer«) Astrologin, hatten Miriam und Cicero noch geglaubt, er sei ein Wassermann. Und dann erwartete sie die zweite schockierende Abweisung des Tages: Als Sylvia de Grace Ciceros präzis gezeichnetes Horoskop präsentierte, erwies er sich als ganz gewöhnlicher Steinbock.
»Aber liegt er nicht auf dem Scheitelpunkt?«, erkundigte sich Miriam, weil es ihr widerstrebte, Ciceros verführerische Wassermann-Qualitäten aufgeben zu müssen. Hier in der heißen Wohnung mit den knackenden Heizkörpern hatte sie ihren Mantel ausgezogen und zeigte ihre Hippietracht in voller Blüte. Ihr Kostüm sprach ebenso wie das von Sylvia de Grace für den Glauben an Talismane, Mummenschanz und heilige Tiere. So ein Scheitelpunkt konnte doch etwas noch Spezielleres sein, fügte Miriam schnell hinzu, schließlich vereine das die Aspekte von zwei benachbarten Sternzeichen – Cicero wäre dann ein verborgenes Zeichen, ein Spion in der Nation des Schicksals.
Die Astrologin klirrte aber nur mit ihren pompösen Jade-Ohrringen und machte Miriams Hoffnungen zunichte. Scheitelpunkte wären ein bei Amateuren sehr beliebtes Phänomen, erklärte sie; seriöse Astrologen wie sie gäben sich mit so etwas nicht ab. Schlimmer noch: Cicero war nicht nur ein trübes Erdzeichen statt eines transzendent ätherischen Wassermanns, in dessen Zeitalter der Planet gerade eintrat, sondern auch die sekundären Einzelheiten waren, soweit Ciceroden beiden Frauen folgen konnte, entmutigend: Planetenherrschaften in Auflösung begriffen und alle in Häusern, die nach Aussage der immer schrofferen Madame de Grace dem Planeten nur zum Nachteil gereichten. »Nirgends etwas Würdevolles?«, flehte Miriam in Ciceros Namen. Der Begriff würdevoll hatte hier offenbar besonderen Wert. Aber Sylvia schüttelte den Kopf. »Keine Essentielle Würde. Sein Mond steht im Krebs, aber im zwölften Haus. Wir nennen das Akzidentielle Würde .«
»Akzidentielle Würde?«, wiederholte Miriam ängstlich.
»Die Platzierung in einem Haus umschreibt die Möglichkeiten des Monds, seine Förderlichkeit auszudrücken.«
»Das hört sich aber gar nicht gut an.«
Miriam waren diese Fakten wichtig, vielleicht fand sie sie sogar fatal; Cicero waren sie eher egal. Er wusste, welche Züge ihn in den Augen anderer definierten. Zusatzdefinitionen – wie beispielsweise Einschränkungen der Förderlichkeit des Mondes – waren Fiktionen, die ihm von außen auferlegt wurden. Unverkennbar irrige Definitionen, aber er sah (noch) keinen strategischen Grund, damit zu hadern. Zu dieser Zeit seines Lebens auf diesem Planeten war Cicero noch ein Informationssammler und -jäger. Was immer Miriam ihm zu offenbaren hatte, war also eine gute Information. Das Schachcafé, Lennys verschlüsselte Anspielungen und seine schwarzen und goldenen Backenzähne waren gute Informationen gewesen, selbst um den Preis von
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