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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Bart oben auf dem Kopf und am Bart, der über seinen Augen und aus den Ohren wucherte, als wieselte darunter etwas herum, das von seinen Fingern gejagt wurde. »Wirf deine Truppen hin und her, so dass sich dein Gegner selbst schlägt. Beim Spiel gegen ungeduldige Dreizehnjährige ist das eine perfekte Strategie. Du spielst lieber Schwarz, stimmt’s? Das hab ich gleich gemerkt, als ich dich gesehen hab.«
    Erstaunlicherweise war die Bemerkung nicht als Anspielung oder Fiesheit gemeint, sondern nur als nüchterne Aussage. Und die Tatsache stimmte. Cicero nickte.
    »Natürlich. Auf dieselbe Weise hab ich übrigens Fischer gegenüber durchgehalten: die Planwagen zur Wagenburg geschlossen und ihn zu Tode gelangweilt. Man glaubt, man spielt Schach, aber in Wirklichkeit spielt man mit seinen Gegnern, nicht mit den Figuren. Miriam, der Junge ist ein begabter Zuhörer, ein Beobachter seiner mitmenschlichen Tiere. Ich habe Angst vor den Informationen, die er schon über dich gesammelt hat, und dasselbe gilt für mich. Wenn wir uns seiner Sympathien gewiss sein können, kann er sich als sehr nützlich für die Revolution des Proletariats erweisen. Aber im Schach kommt er nirgends hin. Und jetzt sag mir, Mim, wann du deinen singenden Goi verlässt, damit wir gemeinsam das Leben führen können, das uns vorbestimmt ist? So langsam kann er doch nach nichts mehr aussehen, und da hab ich einen Vorteil, weil ich noch nie nach was ausgesehen habe.«
    »Ich verlasse ihn an dem Tag, an dem du das Wichsen lässt, Lenny. Das hab ich dir immer versprochen. Aber vergiss nicht, dass ich in dein Schlafzimmer sehen kann.«
    Lenny verdeckte den Woodstock-Vogel mit der einen Hand und legte sich die andere aufs Herz. Dann krümmte er die Finger der rechten Hand, ließ sie ein Stück sinken und schüttelte sie, als enthielte sie ein Paar Würfel. »Du hast mir seit dem Tag, an dem du Brüste bekommen hast, den einzigen Wunsch meines Herzens versagt, und jetzt willst du mir auch das noch nehmen?«
    »Disziplin, Lenny.«
    Er zuckte die Schultern, zog die Spülbürsten hoch, schickte mit der offenen Handfläche ein Stoßgebet gen Himmel und beschwor die ganze Weltlichkeit eines jiddischen Schmierenkomödianten herauf, der sich an Hamlet oder Ödipus versucht. »Dann muss ich ab jetzt im Flur wichsen, wo du mich nicht sehen kannst.«
    Miriam zeigte ihm einen Vogel. »Wir haben einen Termin bei der Astrologin, Lenny. Man sieht sich.«
    »Warte.« Mit derselben Hand, die eben das Wichsen gemimt hatte, wühlte er jetzt grausigerweise in der Hosentasche. »Hier.« Er drückte Cicero etwas Kühles in die Hand. Einen zinkfarbenen US -Penny. Roses allmächtiger Lincoln in Stanniol. Vetter Lenny senkte die Stimme. »Untersuch die Münze. Mit genug Ausdauer wirst du das ganze geheime Gesetz der Geschichte in ihr entdecken. Der Tod der Vereinigten Staaten von Amerika liegt in deiner Handfläche, Junge. Du kannst ihn flüstern hören, wenn du das Ohr ranhältst.«
    »Ich muss aufs Klo«, sagte Cicero.
    Miriam brachte Cicero nach unten zur Toilette, und dann verließen sie das Schachcafé, die Bibliothek der Seelen, das Grab der Zeit. Hinaus auf die Gehwege von Greenwich Village, wo sich das Jahr 1969 wieder bemerkbar machen, sein Leben und seinen Fluss wieder aufnehmen durfte. Die Gegenwart war bestimmt genauso eine Sinnestäuschung wie die hinter dem Mezzaninfenster des Schachcafés gefangene und eingedickte Zeit, aber sie hatte den Vorteil, noch Verhandlungenoffenzustehen. Cicero hatte gehört, in Greenwich Village lebten alle möglichen Leute. Die dreizehnjährige Klemmschwuchtel war bereit, sie kennenzulernen.
    »Ich hoffe, der eingebildete Hammel hat dich nicht allzu sehr schockiert.«
    Cicero schwieg. Fiel unter schockiert auch, dass sein Schwanz auf der tragisch winzigen Toilette des Schachcafés überraschend hart gewesen war, bevor er sein Wasser abschlug? Der verschlissene abgerissene Vetter Lenny – ein Gegenstand seiner fixen Ideen? Vielleicht lag es an Lennys nüchterner Mimikry mit der Hand. Vielleicht an der Art und Weise, wie er Lenny aus seinem Schlupfwinkel im Schach gezerrt und ihn wieder in der Verworrenheit der Erwachsenenwelt installiert hatte. Der Welt der Drecksau Lenny und der Traumfrau Miriam und ihrer instabilen Beziehung, der Welt von Miriams Erwartungen an Cicero, an diesem Tag in ihrem Manhattaner Umfeld, an diesem Tag, an dem etwas Unvorhergesehenes auf ihn zukam. Im Schach kommt er nirgends hin, das war Lenin Angrushs Wendung

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