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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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er steht auf Sieger. Dann soll er mir mal zeigen, dass er siegen kann.«
    »Wenn du meinen Vetter Lenny verstehen willst«, sagte Miriam, »musst du als erstes wissen, dass er der einzige Mensch in Queens ist, der die Miracle Mets nicht zu schätzen weiß.«
    »Ha! Die Mets sind Opium fürs Volk. Lass dir von ihr erklären, Junge, dass eure Mannschaft das Ende des sozialistischen Baseballs in Amerika verkörpert.«
    »Lenny kannte Bill Shea«, erklärte Miriam geheimnisvoll. »Shea wie das Stadion. Der Mann, der die Mets hergeholt hat. Lenny hatte andere Pläne.«
    »Rennende Hunde soll man nicht beim Namen rufen. Lass dir das erklären, wenn ich außer Hörweite bin. Der Tod der Sunnyside Proletarians. Deine Mannschaft ist ein Tatort, Junge. Nichts für ungut.«
    »Spiel Schach«, sagte Miriam. »Außer du hast Angst vor ihm.«
    »Er spielt weiß, Mim. Ich warte auf den ersten Zug des Wunderknaben.«
    Miriam zog sich einen Bugholzstuhl vom Nachbartisch heran und setzte sich neben Cicero, als würde sie mit ihm zusammenspielen. Cicero zog den Königsbauern. Er musste pinkeln, sagte aber nichts. Grunzend nahm Lenny lange genug einen Finger aus dem Ohr, um Ciceros Bauern spiegelbildlich den seinen entgegenzuschieben. Dann wurden die Springer ins Spiel gebracht. Cicero konzentrierte sich in diesem Tal des Unbehagens und des Ekels auf die ihm möglichen Spielzüge, während das große Fenster im ersten Stock mit Pfeifenqualm, Rülpsern und Fürzen beschlug. Miriam sah nicht aufs Brett, sondern winkte auf die Straße hinunter, wo sie anscheinend jemanden kannte, einen Musiker, der mit einem riesigen Kasten vorbeitaperte, in dem sich entweder ein Bass oder Haschisch für Millionen von Dollars befand. Draußen hatte die Welt Farben und wahrscheinlich auch andere Geräusche als das Lungenrasseln der Schachspieler, die noch nicht über ihren Tod informiert worden waren, der irgendwann, wahrscheinlichin den späten fünfziger Jahren, eingetreten sein musste. Von Vetter Lennys unmöglicher Schärpe abgesehen, war das ganze Schachcafé in Schwarzweiß gehalten. Draußen war das Jahr 1970 mehr als eine Möglichkeit; sein Eintreten war nur wenige Wochen entfernt. Hier drinnen war vermutlich selbst der Sputnik noch ein vages Gerücht. Die Gegenwart war eine gelierte Substanz wie Haarpomade, die hinter dieser Scheibe in Flaschen abgefüllt worden war. Mit seinen Springern konnte Cicero sie nicht steuern. Und dann war es ein Schock für ihn, als Lenny einem der beiden eine Falle stellte und ihn vom Feld kickte.
    »Du wirst dieses Spiel verlieren, Junge. Magst du Münzen?«
    »Hab ich noch nicht drüber nachgedacht.«
    »Du solltest dich mal mit Münzen beschäftigen. Die Numismatik ist eine Welt voller Faszination und Wert. Denn das hier bringt dich nirgends hin, ehrlich gesagt.«
    »Spiel, Lenny«, sagte Miriam.
    »Ich kann spielen und reden, besonders mit deinem Schützling hier. Er hat kein nennenswertes Offensivspiel.«
    »Und das weißt du nach sechs Zügen?«
    »Du schaust doch gar nicht zu. Wir haben sechzehn Züge hinter uns. Ich hab genug gesehen. Du bist eine Zivilistin, also willst du Blutvergießen sehen. Wenn du möchtest, dass ich ihn matt setze, kann ich dir gern den Gefallen tun, aber der Junge ist schlau genug, jetzt schon aufzugeben.«
    Cicero sah Miriam und dann wieder das Schachbrett an. Wenn er Lennys Hinfälligkeit nicht sah, sondern nur seine Schmähungen hörte, konnte er die beiden für Vetter und Kusine halten. Lenny schenkte ihm genauso wenig Aufmerksamkeit wie Miriam. Abgesehen vom ruhigen, amüsierten und skeptischen Blick von Groucho Marx auf Miriams T-Shirt war Cicero sich selbst überlassen und konnte die Stellung der Figuren studieren. Cicero glaubte, noch eine Chance zu haben. Sein überlebender Springer könnte eine verwundbare Stelle gefunden haben. Aber als er dazu den Springer zog, durchzuckte ihn die Erkenntnisund ließ ihn vor Scham knallrot werden, dass Lenny nur darauf gewartet hatte, dass er sich dieses letzte und tödliche Mal übernahm. Kaum stand sein Springer auf dem neuen Feld, schoss Lennys Hand vor und ließ den Läufer ein Feld vorrücken, was Ciceros Schlachtreihen gleich drei Katastrophen auf einmal zufügte. Das war beiden klar. Die Frage war nur, wer es Miriam beibrachte.
    »Wahrscheinlich hast du ein wahnsinniges Defensivspiel«, sagte Vetter Lenny. Seine roten, sklerotischen Finger und der seltsam knotige Daumen scharrten an entlegenen Außenposten seines Barts herum, auch am

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