Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Grills und Tausenddollarteleskopen waren kaum noch zu sehen. Aber Sergius, das arme Schwein, das, wie Cicero jetzt einfiel, nach der Hauptfigur von Norman Mailers Hirschpark benannt worden war – kannte Sergius diese Banalitäten über sich selbst eigentlich? –, Sergius machte trotz seiner eingefallenen Brust, seiner dürren Arme und seines dürren Hinterns nicht schlapp. Sein Flehen machte ihn zu einem Schwimmer, den Cicero nicht abschütteln konnte. Trotz seines irischen Einschlags und der Höf lichkeit der Quäker hatte Sergius vielleicht etwas von Roses Zähigkeit. Und so war Rose mit ihnen beiden hier draußen. Wie eine Motte, ein modriges Geschöpf der Nacht, war sie in seine Medizin gekommen, im hellen Tageslicht in ein Glas guten Wassers geplumpst.
»Stella Kim, die Freundin deiner Mutter, hat mir mal erzählt, du hättest keine Erinnerungen an Tommy und Miriam«, sagte Cicero.
»Ich weiß, das klingt unglaublich. Ich war acht, als sie gestorben sind. Aber sie verschwanden lange vorher.«
»Und an Lenny Angrush kannst du dich auch nicht erinnern.«
»Nein. Nur an Geschichten.«
»Tja, dein Onkel Lenny gehörte zu der Sorte Arschloch, die einem dreizehnjährigen Schwarzen unnötigerweise die Schachkarriere ausknipst, einem schwarzen Jungen, der damals sehr wenig hatte, woran er sich im Leben festhalten konnte.« Cicero war sich bewusst, dass diese Kränkung sein Konstrukt war. Ein Saure-Trauben-Manöver mitumgekehrtem Vorzeichen: Man blies den Wert des Verlorenen auf, nur weil es einem genommen worden war.
Sergius blinzelte. »Ich – ich hab gehört, er wäre von der Mafia umgebracht worden.«
»Genau. Nur war das nicht die Martin-Scorsese-Mafia, falls du das denkst. Lenny hatte nicht mit der French Connection zu tun. Er musste Mafiosi auf seinem Niveau finden, um sich eine Kugel in den Kopf jagen zu lassen – Armleuchter aus Queens. Hast du das von Stella?«
»Nein.«
»Du hast keinen blassen Dunst von den Angrushes.«
»Du könntest mich aufklären.«
»Wenn ich Lust hätte.«
Sergius machte den Mund auf, sagte aber nichts.
»Raus damit«, befahl Cicero. Er war jetzt außer Atem. Aber Sergius starrte ihn bloß an, konnte dem Befehl nicht nachkommen, sein Schattenkörper trieb unter seinem erdbeerroten, verwirrten Kopf: ein gegabelter Rettich in Aspik, eine Qualle. Vielleicht hätte Cicero Sergius angreifen sollen, ihm die Shorts wegzerren oder versuchen sollen, dieses gut vierzigjährige Kind, das sich ihm anvertraut hatte, zu missbrauchen. Einst hatten die Angrushes – Rose und Miriam – einen schwarzen Jungen zu ihrem Haustier gemacht. Zur Rache konnte er nun Sergius zu seinem Haustier machen. Als er darüber nachdachte, merkte Cicero, dass er gar nichts hinter sich gelassen hatte, als er mit Sergius aufs Meer hinausgeschwommen war. Sie waren keine körperlosen Köpfe, sie waren nicht frei, um davonzutreiben. Sie waren eher Köpfe, die in einem Medium verankert waren. Die Köpfe der beiden Amerikaner ragten kaum aus dem Meer der Erinnerungen heraus, waren bestrebt, nicht in ihm zu ertrinken, ihre Gliedmaßen machten weiter, klammerten sich ans Leben. Die Sonne über ihnen ein Hammer, der auf die fleischigen Schädel einschlug, die im salzigen Funkeln starrten und zwinkerten. Kein Ausweg.
Im Alter von dreizehn Jahren hörte Cicero Lookins zum ersten und einzigen Mal, dass Rose Zimmer den Kopf ihrer Tochter einst in einen Gasherd gestoßen hatte. Miriam Gogan erzählte es ihm an einem kühlen Novembernachmittag, einem Tag, der wegen vieler faszinierender Einzelheiten unvergesslich blieb.
Angefangen hatte es mit Schach. In letzter Zeit hatte Cicero alle Mitglieder im Schachclub der I. S. 125 platt gemacht, und auf Roses Anraten hin hatte Miriam sich bereit erklärt, mit ihm das Schachcafé an der MacDougal zu besuchen und ihn gegen Vetter Lenny spielen zu lassen, damit der einschätzen konnte, ob sie es womöglich mit einem Schachwunderkind zu tun hatten. Und hinterher, versprach Miriam ihm, würde sie Cicero in ein Loft an der Grand Street führen, wo man ihm ein professionelles Horoskop erstellen würde. Es sollte also ein Tag der Blicke in die Zukunft werden.
Obwohl sie infolge der unglaublichen Langlebigkeit der Affäre zwischen Rose und Ciceros Vater de facto als seine große Schwester durchgehen konnte, hatte Miriam Cicero bis zu diesem Tag, an dem sie ihn aufgelesen hatte, immer kunstvoll ignoriert. Sie hatte ihn in Roses Wohnung abgeholt und ohne viel Federlesens ihrem
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