Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
Vom Netzwerk:
Klammergriff entwunden. Als wäre es der Tag seiner Abschlussfeier. Angesichts von Miriam mit ihrer Lockenmähne und ihrem langen Mantel im Hahnentrittmuster, dem hypnotisierenden Muster schwarzweißer Quadrate wie bei einem teuflisch verschwommenen Schachbrett, auf dem man aber nicht spielen konnte, das man nicht mal zur Gänze überblicken konnte, weil es um sie herumgewickelt war, hätte Cicero auf Anhiebwissen müssen, dass Miriam gekommen war, um einer Revolution in seinem Leben Vorschub zu leisten, um ihm zu zeigen, dass das Schachbrett ebenso wie die Welt nicht flach, sondern rund ist.
    Bis dahin war Cicero Roses Negerjunge gewesen. Er nahm daher an, dass Miriam diese Dynamik überprüfen und ihn dazu bringen wollte, Roses hehre Ideale zu hinterfragen. Ciceros gehorsames Schweigen dürfte darauf hingedeutet haben, dass eine solche Intervention nötig war. Nach außen hin war er äußerst gehorsam. Auf Miriam musste er den Eindruck gemacht haben, hundertprozentig Roses Abraham-Lincoln-Phantasien des guten und anständigen Ergebnisses ihrer geduldigen Protektion zu entsprechen, ihrer Fixiertheit auf Schulweisheit, deretwegen sie dem Sohn des Negerpolizisten die Romane von Howard Fast und die Lyrik von Carl Sandburg eingetrichtert und ihm – wie früher schon Miriam – immer wieder die Eroica vorgespielt hatte, überlagert von Roses Lobgesängen auf Beethovens Größe, die sich mit ihrem Weinen mit zusammengebissenen Zähnen abwechselten.
    In Wirklichkeit war Cicero mit dreizehn schon ein Monsterskeptiker.
    Er glaubte jedoch an Schach, an diesen Geheimgarten rationaler Unbedingtheiten. Auf den Feldern stürzten und schlingerten die Dinge nach verbindlichen Regeln, Läufer und Türme je auf ihre Weise, Bauern pflügten voran, Schwarz und Weiß waren unmissverständliche Feinde. Springer hatten Geheimnisse, ganz wie Cicero. Sie gaben dreiste Unsichtbarkeit vor, als könnten sie durch Mauern gehen. Springer schauten scheinbar in die eine Richtung und brachten dich mit einem Seitenblick aus einer anderen Richtung um. Wenn man sie so zog, steckten alle anderen Figuren in der Erde fest, schwerfällig wie Bauern. Bis zu jenem Tag hatte Cicero sich eingeredet, wenn man bei einer Sache gut genug würde, bräuchte man nie eine zweite.
    Cicero glaubte an Schach, und obgleich Miriam ihn interessierte, weil auch sie Rose hatte ertragen müssen und jahrelangen Vorsprung hatte, vergaß er beide Frauen, als Miriam ihn in das winzige Schachcafé dirigierte. Das Café mit seiner Luft voller Pfeifenqualm, den verschmiertenVitrinen mit exotischen Figurensätzen und den grauen, kaum mehr menschlichen Besessenen, die, ohne auch nur die Mäntel abzulegen, im eiskalten Mezzanin über ihren knorrigen Endspielen kauerten. Die blassen, zuckenden Hände, die aus den Ärmeln vorschossen, um Holzfiguren energisch auf neue Felder zu klacken, zur Schachuhr schnellten und auf den matten Messingknopf hieben, sich dann zurückzogen – diese Hände hätten ein Eigenleben führen können, ohne jede Verbindung zu den verdrehten Augen, den gerunzelten Brauen und aufgeworfenen Lippen darüber. Wenn man nur die Gesichter betrachtete, hatte man keine Ahnung, welches davon mit der jeweiligen Hand verbunden war, die gerade gezogen hatte. Cicero erhielt hier vielleicht erstmals Einblick in ein wirklich akademisches Milieu, wie es das Ziel seiner Lebensbahn werden sollte: einer miniaturisierten Welt, in der alles nach Selbstachtung gierte, unscheinbar außer für jene, die die ungeschriebenen Gesetze des Elfenbeinturms kannten und von erhabener Blindheit für die Außenwelt waren. Und Cicero sollte Vetter Lenny, der einst gegen Bobby Fischer angetreten war, hier nicht nur endlich kennenlernen, er sollte sogar gegen ihn spielen.
    Lenin Angrush kam kurz darauf nach oben gehetzt. »Ein Glas Tee!«, sagte er, noch bevor er Miriam grüßte und in gespieltem Zorn mit der Hand auf den kleinen Tresen patschte, hinter dem der Inhaber nur indigniert die Augenbrauen hochzog. Dann öffnete sich die bärtige geballte Faust von Vetter Lennys Gesicht, und sein Lächeln verriet in den Zahnlücken den Hauch einer Ähnlichkeit mit Rose. Die Backenzähne dahinter waren ein Katastrophengebiet aus Schwarz und Gold. »Bubbelah!« Er packte Miriam in ihrem Hahnentrittmantel, ihre Handtasche verklemmte sich in seiner Umarmung, seine Arme umschlangen sie wie ein Würstchen. Dann überantwortete er sie der Wachsamkeit seiner Blicke, in denen sich Verachtung, Verehrung und

Weitere Kostenlose Bücher