Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
zur Erkenntnis der tödlichen Schwachstellen des Kapitalismus, seines Sogs der Verkommenheit, seines Wehklagens und Kratzens sowie der Morbidität seiner Marktschreierei. All das drängte sich ihm in der Art seines eigenen verkommenen Klagens auf, das ihm wie ein schrilles Pfeifen im Ohr stets gegenwärtig war, ein Klingeln an der Schädeldecke. Bill Shea hatte dafür kein Ohr, gehörte einer anderen Sorte Mensch an. Shea war redlich. Er glaubte, in ihm könnten schlechte Dinge gut werden.
Dieser Glaube war überall in diesem großen Land zu spüren, aber manchmal manifestierte er sich in einem Einzelnen, in aller Regel einer großen kräftigen maskulinen Schablone wie der, der sich Lenny jetzt gegenübersah und die den Kommunismus daran hinderte, in den Vereinigten Staaten von Amerika Fuß zu fassen.
Die kräftige Schablone legte Lenny eine Handschuhpranke auf die Schulter und taxierte seine Kleinheit.
»Haben Sie den Song gehört?«, stöhnte Lenny.
»Die National League kommt«, sagte Shea. »Die Ausweitung läuft, nur zwei Städte, New York und Houston. Flushing bekommt seinen Baseballverein.«
»Machen Sie sich lustig?«
»Warum sollte ich? Rickey und Frick stehen in den Startlöchern. Wagner auch.«
»Sie haben die Sache fallen gelassen.«
»Gar nichts hab ich fallen gelassen. Der National-League-Baseball kehrt nach New York City zurück. In einer Woche wird es bekanntgegeben. Bis dahin bleibt es bitte unter uns.«
»Die Liga, die Continental League.« Die Volksliga, aber das sagte Lenny nicht laut.
»Das hier ist besser.«
Bürgermeister Wagner und hinter ihm immer Robert Moses. Ford Frick, Baseball-Beauftragter. Branch Rickey, Urheber der Continental League. Anwalt Shea, der Mittelsmann. Alle Dominosteine, die Lenny mit einer Fingerspitze hatte umkippen wollen, begruben stattdessen ihn unter sich.
»Was ist mit den anderen Städten?«, fragte er, nicht weil ihn die Antwort sonderlich interessiert hätte, sondern weil er krampfhaft nach Mitteln suchte, um zu verstehen: Wer hatte hier wen ausgetrickst? War Rickey der Machiavelli, der Shea für seine Winkelzüge einspannte? War es weiter oben ausgeheckt worden? Oder direkt vor seinen Augen? Egal. Niederschmetternder Verrat auf der ganzen Linie: Die Lebenserfahrung machte Lenny Angrush klar, dass es nichts mit ihmzu tun hatte. Noch mit irgendeinem anderen, der von der Geschichte stillschweigend übergangen worden war. Dass er sich persönlich ausgetrickst fühlte, war bloß ein schwacher Überrest des Geschicks. Er überlegte, wie er die Nachricht seinem bebrillten Pitcher beibringen sollte, der Gorki im Original studierte.
»Die anderen Städte soll die Liga besänftigen. Sie wollten Baseball in Queens. Jetzt freuen Sie sich schon, mein Sohn. Das ist ein tausendprozentiger Sieg.«
»Die Pros«, konnte Lenny fast nur noch flüstern. Wenigstens der Name. Rette den Namen. Eine Art auf lösende Gnade überkam ihn. Ein schwindender Überrest, Kielwasser des Pechs. Nichts wie raus aus Sheas Büro. Er fühlte sich vom Licht geblendet, unsichtbar. Wer wusste schon, wieviele hier hereingekommen waren, ohne je wieder zu gehen. Die gerahmten Hochglanzaufnahmen vom Händedrücken. Wenn er nicht aufpasste, blieb von ihm nur ein Kopf über einem Anzug übrig, wie bei Vincent Price als Fliege. Angewidertes Grinsen, als Sheas Händedruck ihm das Leben ausquetschte. »Die Proletarians!«, sagte Lenny noch protestierend, wich aber schon zur Tür zurück. Er musste schneller sein als der Zauberspruch und groß genug bleiben, um im Fahrstuhl an die Knöpfe heranzukommen.
»Ich werde es in Betracht ziehen.«
Sheas Standardspruch traf Lenny auf der Flucht an der Schulter. In Betracht ziehen – so wie Gi-Odgers und Dodgants. Der Übergang aus Sheas Allerheiligstem in den Empfangsbereich war der Schritt in einen Hochofen. Lenny war überrascht, dass sich auf der hinter ihm geschlossenen Tür zu Sheas Büro kein Rauhreif bildete. Beschämt wich er dem Blick der Sekretärin aus und vergaß seine Tonbandspule, also kam sie ihm nachgelaufen, als er schon auf den Fahrstuhlknopf drückte, und hielt ihm den weißen Karton hin. Geschickt drückte er ihn mit dem Ellenbogen an die Aktentasche und fand in der Verzweiflung zu jener Gelassenheit zurück, die sein Überschwang regelmäßig zerstörte. Sollte sie sich ruhig in sein scheidendes Profil verlieben. Wenn doch bloß endlich der Fahrstuhl käme.
»Wissen Sie was?«, sagte Moira oder Maureen.
»Ja?«
»Sie brauchen etwas
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