Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Typischeres für das Leben in der Stadt. Straßenmusik wie den Doo-Wop, der jetzt der letzte Schrei ist. Mein Bruder spielt in so einer Gruppe. Sie suchen doch eine Stimme für die Arbeiter von New York City, aber ich glaube, die machen sich nichts aus Squaredance oder Banjozupfen, wenn sie im ganzen Leben noch kein Maisfeld oder die Dust Bowl gesehen haben.«
Wer den Schaden hat … Und dann formulierte sie auch noch eine historisch treffende Kritik der Volksfront. Lenny bekam, was ihm gerade noch gefehlt hatte. Ohne das puterrot anlaufende Gesicht von der einfach nicht aufgehen wollenden Fahrstuhltür abzuwenden, sagte er: »Ich neige dazu, Ihnen zuzustimmen. Dass die Kräfte des Fortschritts die ländliche Bevölkerung sentimentalisieren, der sie – mit Verlaub gesagt – am Arsch vorbeigehen und die zu organisieren sich auch nicht lohnen würde, wenn man es überhaupt könnte, bereitet mir schon lange großen Kummer. Wir sollten uns zur Abwechslung mal um den Doo-Wop an der Straßenecke scharen. Ich werde es in Betracht ziehen.«
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Lenny Angrush hatte kurze platte Daumen. Waren sie einem einmal aufgefallen, waren sie unausweichlich, da für jeden Betrachter unübersehbar. Wohin sich der Blick des Begehrens richtete, dorthin wanderten als nächstes die Daumen, ob nun auf eine Baseballkarte, eine Murmel aus Katzenauge oder eine Lakritzschnecke. Lenny war sechs, als ein anderes Kind zum ersten Mal darauf hinwies, ein ausreichend großer Unterschied, um die Unterscheidungsmaschinerie des kollektiven Grundschulgeists von Sunnyside Gardens in Gang zu bringen. Als er in der Klasse einen Bleistift gereicht bekam, um in die Gestaltung des Alphabets eingeführt zu werden, ergriff Lenny ihn mit vier Fingern und einer großen Zehe. Die Lehrerin musste ihm helfen, seinen ganz eigenen Umgang damit zu entwickeln. Wenn man sich dasGefühl erlaubte, waren die beiden Daumen eines Menschen die ausgreifenden Klauen des Körpers, eine Zange, die direkt vom Herzen abhing. Doch auch bei einsamen Unternehmungen blieb der Daumen außen vor, wenn man etwa in der Nase popelte oder den Pimmel packte. Es blieb einem nichts anderes übrig, als sich mit dem deformierten Instrument zu arrangieren. Ein entscheidender Teil Lennys, fleißig, behende, agil, ein Körperteil, der den Unterschied des Menschen gegenüber der Tierwelt ausmachte, versagte also. Dieses eine ihn definierende Faktum hätte in einer Generalabrechnung für alle seine Schwächen stehen können, wenn er sich einen solchen Luxus gestattet hätte. Ein anders beschaffener Mensch hätte wegen solcher Daumen ewiglich Trübsal geblasen. Nicht so Lenny. Er vergaß sie voll und ganz und blinzelte ernsthaft verwirrt, wenn der Blick eines anderen auf ihnen hängenblieb, ganz zu schweigen von etwaigen diesbezüglichen Bemerkungen im Erwachsenenleben.
Warum drehte Lenin Angrush dann aber in Gegenwart von Tommy Gogan immer nur Däumchen? Schob sie in die Taschen seiner Blue Jeans, versteckte sie hinter schaumbenetzten Bierkrügen? Ganz einfach. Wegen Tommys entspannter feingliedriger Hand, die am Hals seiner Gibson spinnenartige Akkorde griff. Bei Gesprächen am Küchentisch saß der Folksänger mit der Gitarre wie einer Fortsetzung seines Körpers da, verschob die Finger von Bund zu Bund, selbst wenn die klimpernde Hand gestikulierte oder mit rauchführenden Zigaretten oder spaghettiführenden Gabeln herumfuhrwerkte. Miriam Zimmer hatte sich in einen Vertreter des einzigen Berufsstandes verliebt, in dem Lennys kleine Abweichung eine Rolle spielte, des einzigen, in dem sie eine Schwäche darstellte. Als Lenny zusammen mit Miriam zu ihren Caféabenden latschte, war ihm einmal eine Gitarre in die Hand gedrückt worden. Er hatte sie sofort zurückgegeben, weil er wusste, wo seine Fäustlinge von Händen hingehörten und wo nicht.
Jetzt saß er also da, die verborgenen Daumen pochten, und sah zu, wie Tommy Akkorde griff. Am späteren Abend unterlegte der Ire das allgemeine Gespräch gern mit seinem Soundtrack, konnte aus praktischjedem Gefasel, jedem weingetränkten planlosen Gerede einen saitengedämpften Talking Blues machen. Haste Hunger? Nö, hab mir im Caricature so ’n Gratis-Cheeseburger geholt, dum, dum, dum. Moment mal, wie kannst du denn am Dienstag im Gate of Horn die Vorgruppe von Van Ronk sein, wenn Van Ronk im Gate of Horn rausgeflogen ist, dum, dum, dum. Gib mal das Salz, dum, dum, dum. Soweit Lenny das beurteilen konnte, hatte Tommy Gogan keine große Gabe für
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