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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Karton mit dem wieder zurückgespulten Band in die Hand gedrückt hatte, auf das Tommy seinen überflüssigen Titelsong aufgenommen hatte. Der lag jetzt zusammen mit dem Büchlein und den seltenen Münzen in der Aktentasche an seinem Bein hier im White Horse. Weitere Blamagen, die mit den Verlockungen der Sekretärin zu tun hatten, der Lennys Kopf einmal so nah gekommen war, dass er nicht nur ihren Duft gerochen, sondern auch die von ihr ausgehende Wärme gespürt hatte, die geflüsterten Möglichkeiten, all das musste weggesperrt werden, kalfatert und verpicht wie radioaktive Stoffe, die im Meeresgrund seines Gedächtnisses versenkt wurden.
    »Zu all dem ist meine Musik imstande?«, fragte Gogan. »Ich fänd’s ja toll, wenn ich eine Karikatur zum Japsen bringen könnte.«
    »Komm, wir singen zusammen: Lass uns zum Fluss gehen und die noch kaum geborene strahlende Zukunft ersäufen.«
    »Ich versteh langsam nicht mehr, worauf du eigentlich rauswillst.«
    »Nein, natürlich nicht, wie könntest du auch. Schließlich bist du der Folkmusik wandelnde Werbetafel für die ewige Unschuld mit einem Grashalm zwischen den Zähnen. Du hast keine Ahnung, aber Mim versteht mich gut.«
    »Nur zu gut«, sagte Miriam.
    »Ist Paul Robeson dir lieber?«, fragte Gogan, und seine Gutmütigkeit trieb Lenny die Wände hoch.
    »Paul Robeson ist ein Intellektueller, und ja, er ist mir lieber. Genauso wie Fletcher Henderson und King Oliver, nicht wegen ihrer politischen Überzeugungen, die ich nicht kenne, sondern wegen ihrer angeborenen Würde, die von einer künftigen besseren Welt spricht. Ich nehme an, deine Vorliebe gilt dem barfuß laufenden Habenichts aus dem Mississippi-Delta, einem stöhnenden Teddybär, den du knuddeln kannst. Weißt du was? Ich hab gehört, die Yankees haben immer noch einen Negerjungen auf der Spielerbank, den sie auf dem Weg zum Mal als Glücksbringer anfassen.«
    »Jetzt sei mal still, Lenny.«
    Als Miriam das sagte, hatte sie den Kopf von der Schulter des Folksängers gehoben. Tommy Gogan starrte über den Tisch, seine Finger umschlossen immer noch den Gitarrenhals. Lenny hätte ihm zu gern richtig wehgetan, aber vielleicht konnte man Gogan einfach nicht wehtun. Lenny griff unter den Tisch, holte die Spule aus der Aktentasche und schob sie zwischen den Kondenswasserringe bildenden Bierkrügen über den Tisch. »Hier, das war nutzlos, mehr als nutzlos. Schreib mir einen neuen Folksong, falls dir einer einfällt. Titel: ›Blödheit ist ein Segen‹.«
    »Halt’s Maul, Lenny. Verzieh dich in dein Queens.«
    Sie konnte ihm nur befehlen, still zu sein und das Maul zu halten, weil ihnen niemand zuhörte. In allen anderen Kreisen, in denen sich Lenny sonst bewegte – dem Schachcafé, dem Münzladen, der Cafeteria vom City College, bei zufälligen Versammlungen ehemaliger Parteigenossen in benachbarten Hinterhöfen von Sunnyside, die zwar neu eingezäunt worden waren, aber dennoch hoffnungslos gemeinschaftlich blieben, Kropotkins Gärten nach dunklen Plänen und ohne Grenzen, die durch weiße Latten- oder Maschendrahtzäune oder auch Rosenhecken zu ziehen gewesen wären, vielleicht sogar in einem Waggon der Linie 7, der eine Herde vom Grand Central zum wimmelndenBahnsteig von Queensboro Plaza im gleißenden Sonnenlicht transportierte –, in all diesen Umfeldern hätte Lennys Gardinenpredigt, seine Stimme, die sich zur Empörung hochschraubte, Mithörer angezogen. Kiebitze, die sich mit eigenen Abneigungen und aus eigenen Angriffswinkeln einmischten. Die sich in die Geschichte verstrickt hatten und ihren eigenen Aufschrei loswerden mussten. Die neue und althergebrachte Demütigungen ventilierten und garantiert an einem Gutteil von Lennys Argumenten Anstoß genommen hätten. Sie hätten unmissverständlich klargemacht, worum es Lenny ging, und dem Folksänger wegen seiner mangelnden historischen Perspektive mit dem Finger oder gleich der Faust gedroht. Der springende Punkt war, dort hätte Lenny eine Lunte angezündet. Hier nichts. Das White Horse war die Heimstatt betrunkener Maler, Dichter und Jugendlicher mit Trotzkibärten, die Trotzkis Namen auf Befragen wahrscheinlich gar nicht gekannt hätten; hier war Lennys Wutausbruch nur das x-beliebige Wortgemälde eines Beatniks, ein Spritzer im allgemeinen Kuddelmuddel. Hätte jemand in Hörweite überhaupt etwas mitbekommen, hätte er es wohl nur für allgemeines Schwadronieren gehalten. Die Stand-up-Routine eines Lord Buckley oder Brother Theodore, etwas, das in

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