Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
hätte wie so viele andere auch in Rauch aufgehen können. Mit vierundzwanzig war er jung genug, um vorgeben zu können, alles wäre die Idee seiner Eltern gewesen. Er machte schon berufliche Gehversuche im Münzwesen.Er hätte ins YMCA ziehen und eine Umlaufbahn einschlagen können, die Sunnyside Gardens völlig vermied.
1956 wäre Lenny dank Chruschtschow in jedem Fall zum dritten Mal geboren worden. Ob er nun geflohen oder geblieben wäre. Eines Sommerabends stand er in den Gardens, ausnahmsweise nicht in seinem oder Roses Wohnzimmer oder noch einem anderen, in dem ein offizielles oder inoffizielles Treffen stattfand, sondern tatsächlich in den Gärten, im nicht unterteilten gemeinschaftlichen Flickenteppich aus Blumen- und Gemüsebeeten, wo teilweise schon das Unterholz wucherte oder ein junger Baum aufgepäppelt wurde, der einst Schatten spenden sollte. Er war hinausgegangen, um in die Sterne zu schauen und eine Zigarette zu rauchen – Lenny lebte über seine Verhältnisse und hatte in jenem Sommer angefangen zu rauchen, eine Gewohnheit, die er schnell wieder ablegen sollte, der Sparsamkeit zum Opfer brachte wie so viele andere kleine Eitelkeiten auch, das Tragen zueinander passender Socken, Mundwasser, Regenschirme und allerlei andere bürgerliche Luxusartikel. Er stand zwischen den Parzellen, auf der einen Seite Karotten und Steckrüben, als wäre die Lebensmittelrationierung der Kriegszeit noch immer nicht vorbei, auf der anderen Zimtrosen unter einer Reifenschaukel, die am kräftigsten Ast des ältesten Baums aufgehängt worden war. Stand da und blies den Rauch zu den funkelnden und nicht funkelnden Sternen hoch, den kreuzförmigen Flugzeugen, die Richtung LaGuardia oder Idlewild in den Landeanflug gingen. Hier, im Zentrum eines städtischen Wohnblocks, der für Verabredungen gedacht war, konnte Lenny die Stimmen hören. Die Streitereien, die wehklagende Verzweiflung, das Entloben von Gelübden. Aus all den offenen Fenstern der Küchen drangen in jenem Sommer Stimmen, wenn man darauf eingestellt war und die geistigen Ohrschützer abnahm. Verzweifelnde Auseinandersetzungen mit der Geschichte, dem Schicksal und dem Selbst. Der amerikanische Kommunismus war im Wohnzimmer zur Welt gekommen und zog sich zum Sterben in die Küche zurück.
Hinter einem Küchenfenster blieb es jedoch still, obwohl eine nackteGlühbirne verriet, dass dort jemand war. Kusine Rose hatte niemanden zum Streiten. Wenige Monate zuvor war sie achtkantig aus der Partei geflogen. Ihr reinrassiger kommunistischer Ehemann war schon lange verschwunden, ob er nun zu kommunistisch oder zu deutsch gewesen war, um bleiben zu können, oder einfach, weil er sie nicht mehr ertragen hatte. Ihr schwarzer Polizeigeliebter war zu Hause bei seiner Familie. Und Miriam? Die hatte schon mit vierzehn das Vagabundieren geübt. Mit sechzehn war sie ausgeflogen. Sie versetzte sich aus den Gardens überall hin, wo sie als jüngst auf die Highschool gekommene Jugendliche nur sein wollte – in Morgenlanders Eisdiele am Queens Boulevard oder in den Keller der Himmelfarbs mit dem neu verlegten Teppich, ihrem »Hobbyraum«. Solly Himmelfarb war der gute Jude, der die roten Socken jetzt herumkommandieren konnte – die hatten ja nichts Besseres verdient. Dieselbe Willensanstrengung, die sie bei ihren Treffen vergeudet und mit dem Warten auf die Heraufkunft einer neuen Ära verplempert hatten, hatte Sol jahrzehntelang in seinen Ausstellungsraum für Möbel an der Greenpoint Avenue gesteckt und Juden und Iren gleichermaßen zu seinen Kunden gezählt. Als es während der Entbehrungen im Krieg nichts Neues zu verkaufen gab, hatte er Gebrauchtmöbel verkauft. Was er zurückkaufte, stellte er schamlos zum doppelten Preis wieder zum Verkauf aus. Schlau, das Geschäft nicht mehr Himmelfarb’s zu nennen, sondern Moderner Luxus. Unter diesem Namen hatte Himmelfarb seinen Töchtern ein bisschen Luxus verschaffen können und den Keller mit einem Telefonanschluss ausgestattet, so dass Miriam Rose in der Küche anrufen und Bescheid sagen konnte, dass sie zum Abendessen wieder bei den Himmelfarbs bliebe. Bevor sich seine Eltern ins Gelobte Land zurückzogen, aß Lenny mit vierundzwanzig wahrscheinlich öfter bei ihnen zu Abend als die Ausreißerin auf Probe bei Rose. In dieser Stunde der Schuldzuweisungen und der gegenseitigen Quälerei, wenn die kleinen Kinder ins Bett gebracht und die erschöpften Seelen an den Küchentischen entkorkt wurden, war Rose daher allein. Lenny sah
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