Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
ihren Schatten über die Wand gleiten. Rose öffnete den Kühlschrank und goss sich ein großesGlas Tomatensaft ein. Hatte ein Abendessen in den Herd gestellt, wahrscheinlich irgendwas Aufgetautes. Oder auch nicht. Vielleicht Salzkartoffeln und Salzcracker, der Einfachheit und Verzweiflung halber eine gleichermaßen gute Wahl.
Vor dieser Szene hätte Lenny an jenem Abend und für alle Zeit fliehen können.
Dann merkte er plötzlich, dass er nicht allein war. Er hörte ein Scharren am Boden, das er erst für ein Tier hielt, Herrgott noch mal, eine Ratte oder ein Eichhörnchen, das ihm ins Hosenbein schlüpfen wollte. Nein, ein Kind – unglaublicher noch, ein Teenager, der im Dreck des Blumengartens kniete und mit einer kleinen Handharke den Boden glattstrich. Lenny zertrat die Kippe mit der Hacke und kam einen Schritt näher. Es war Carl Heuman. Er hatte ungefähr dasselbe Alter wie Miriam Zimmer und war ihr Klassenkamerad, wobei die Mädchen mit fünfzehn schon Frauen waren und die Jungen noch Jungen. Heuman gehörte zu denen, die immer unsichtbar blieben, ein Zeuge, ein Schwamm. Ein ernster Junge – bei Parteitreffen hatte Lenny schon miterlebt, wie er Mäuschen spielte und den Frauen in der Küche beim Nachfüllen der Mandelschälchen und beim Tee-Einschenken half und dabei im Geist das ganze Universum der Erwachsenen abspeicherte. Und hier kümmerte sich Heuman im Mondschein um die Ringelblumen seiner Eltern, während sich Mutter und Vater wegen Chruschtschows unbestreitbaren und niederschmetternden Wahrheiten an die Gurgel gingen. Eine Schnecke im Gras, die eine Spur schimmernden jugendlichen Weltschmerzes hinterließ. Lenny war vor gar nicht so langer Zeit genauso gewesen.
»Hab dich da unten gar nicht gesehen.«
Heuman sagte nichts.
»Magst du Blumen?«
Der Junge zuckte kläglich die Schultern.
»Hast du dich je für die Welt der Numismatik interessiert?«
»Für was?«
»Münzen.«
»Wenn ich Unkraut jäte, nimmt mein Vater mich zum Baseballspiel mit.«
»Magst du Cal Abrams?« Die Dodgers hatten mal einen jüdischen Außenfeldspieler gehabt, auch wenn er Duke Snider nicht das Wasser reichen konnte.
»Erskine. Ich will werfen.«
Lenny brachte es nicht übers Herz, dem Jungen zu erzählen, was er wusste: Das Geld der Anleger sorgte dafür, dass sich die Dodgers davonmachten. Es hatte seinen Grund, dass Walter O’Malley Ebbets Field verkauft hatte: Sein Blick richtete sich nach Westen. Die mächtigen Korrektoren des segregierten Baseball, die geheime offizielle Mannschaft der Kommunistischen Partei Amerikas, liebäugelten jetzt mit ganzjährigem Sonnenschein. Braungebrannte Geldsäcke und Filmjuden würden sich auf den Sitzen breitmachen anstelle der teigigen, kaum halb amerikanisierten Mitteleuropäer.
Die Männer wussten das, wussten aber nicht, wie sie es den Jungen beibringen sollten. Nicht viel anders als Chruschtschow, der Mann aus Moskau, der zuletzt gezwungen war, der kindlichen KP der USA das Herz zu brechen.
Alle Zugehörigkeiten versanken in Katzenjammer.
Lenny hätte den ganzen Popcornstand in die Luft jagen können.
»Du wirfst mit links?«, fragte er, als er sah, wie Heuman die Harke hielt. Der Junge war eher klein.
»Ähm, ja.«
»Links bleibt man dran. Schau dir bloß an, wieviele Chancen sie diesem viel zu weit werfenden Schafskopf Koufax geben. Kannst du einen Curveball werfen?«
»Weiß ich nicht.«
»Ich bring’s dir bei.« Lenny hatte seit zehn Jahren auf keinem Spielfeld mehr gestanden – die anderen Kinder hatten gelernt, auf seinen Kopf zu zielen, er hatte sich todsicher wimmernd in den Staub geworfen, und damit hatte sich die Sache. Aber er konnte der armen Sau den Fänger machen. Wenn Heuman überhaupt einen Arm hatte,konnte Lenny ihm einen Curveball antrainieren. Etwas hier aus den Ruinen bergen, wo die Stimmen in der schönen Juninacht des Jahres 1956 weiterschnatterten, am Abend des Tages, an dem Chruschtschows im Februar gehaltene Geheimrede von der New York Times in voller Länge abgedruckt worden war.
Lenny hätte dieses Katastrophengebiet auf Zehenspitzen verlassen können, und niemand hätte einen Ton gesagt.
Ob man ging oder blieb, ein neues Leben begann. Lenny blieb. Als er an diesem Abend dem fünfzehnjährigen Pitcher im Dreck der Blumenbeete seiner Eltern zuredete, spürte er, wie sich der alte Kommunismus, die Moskauhörigkeit, wie eine dünne Haut von seinem Geist abschälte, eine belanglose Hülle, die trocknete, verkrustete und weggeblasen
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