Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
vermasselten, über etwas Angebranntem verzweifelten und schließlich eine Dose Sardinen aufmachten. In ihrer Zerstreutheit hatten sie ihn mit dem Baby allein gelassen, auch wenn sie ihn noch nicht zum Babysitter erklärt hatten. Lennys Daumen waren nicht so platt, dass er sie nicht in die Taille von Miriams Windel hätte stecken und aufziehen können. Ohne weiteres rutschte sie zu den Knöcheln mit ihren Grübchen hinab. Hinterher spielte Lennyden Dummen und behauptete, das hätte sie selber gemacht. Die pipischwere Windel stank auf dem Perserteppich seiner Ma, aber das Mädchen war sauber und geruchlos. Vollkommen.
Kurze Daumen waren kein schlimmer Fluch, nicht im Vergleich zu der zu früh gewonnenen Erkenntnis, dass es auf Erden nur einen Menschen gab, der einem etwas bedeutete. Dem Fluch, das zu haben, was jeder sein Lebtag suchte, was jeder ersehnte, es gänzlich bei sich zu haben, zu nah und so unheilvoll früh. In den Schoß gelegt und doch versagt, wie einem Ochsenfrosch der Mond versagt bleibt. Die Jahre, bevor Miriam Zimmer ihre jugendliche Persönlichkeit entwickelte und lernte, dass sie das Recht hatte, Lenny wegzuschicken, dass sie ihm sagen durfte, er solle zusehen, dass er Land gewinne, und sich verdünnisieren, bevor sie verlangen konnte, er solle sie nicht mit seiner Aufmerksamkeit behelligen, verlangen konnte, er solle seinen Glauben für sich behalten, diese Jahre waren vielleicht die besten Jahre seines Lebens. Noch einmal oder dreimal hatte seine Kusine in seinem Schoß gelegen. Einmal, um einen Comic zu lesen, den er ihr mitgebracht hatte. Da war sie sechs und er vierzehn. Ein Jahr darauf, um im ersten Fernsehgerät von Sunnyside Gardens fernzusehen, vor dessen Wunder sich die Kinder aus allen Blocks der Umgebung im selben Wohnzimmer versammelt hatten. Diese Jahre, bevor ihm die Insel verweigert wurde, die er kennengelernt hatte, als sie ihm erstmals in die Arme gelegt worden war. Danach sollte er in seiner kochenden See ertrinken. Manchmal ließ sie ihn dort zu, manchmal nicht. Aber nie rettete sie ihn. Lenny hatte seine Kusine ihr ganzes Leben lang geliebt.
Lenin Angrush war dreimal zur Welt gekommen. 1932 war er geboren worden. 1940 war Miriam dem Achtjährigen in die Arme gelegt worden. 1956 hatte Chruschtschow die Illusionen in Bezug auf die Sowjetunion zerstört, und in diesem historischen Augenblick hatte sich der Kommunismus wie Rauch von der Geschichte gelöst. Die Schwächeren – und dazu gehörten fast alle, die Lenny je getroffen oder von denen er gehört hatte – wurden mit dem Traum zerstört.Andere hatten sich aus dem Staub gemacht. Im Staub lag damit auch die Kommunistische Partei der Vereinigten Staaten von Amerika.
Im engeren Sinn machten sich auch Lennys Ma und Pa aus dem Staub. Salman und Ida, aber für Lenny einfach Ma und Pa. Sie wurden wieder Juden und flohen nach Israel, um mit noch entfernteren Vettern und Kusinen der Angrushs Oliven anzubauen und auf der Grundlage eines Wüstenstreifens und einiger sandiger Wendungen aus dem Alten Testament eine neue Judenwelt aufzubauen. Eine Zuflucht vor der Politik des 20. Jahrhunderts und ein Unterschlupf in der Politik des 6. Jahrhunderts v. Chr. – warum sollte man sich dem Krieg der Gegenwart aussetzen, wenn der Krieg der Vergangenheit ohne weiteres wiederbelebt werden konnte? Sie fragten, ob er mitkommen wolle. Lenny sagte nein, und sie zogen noch vor seinem Abschluss am Queens College von dannen. Bei der Abschlussfeier blieben ihre Sitze leer.
Nicht mal einen Monat danach bezog ein irisches Paar das Haus der Angrushs an der Packard Street. Lenny hätte sich damals aus Sunnyside Gardens verkrümeln, beim Anblick seines wieder bewohnten Elternhauses fliehen können, als erneut eine Mesusa entfernt wurde, auch wenn der Türrahmen diesmal abgeschmirgelt und in frischem Grün gestrichen wurde, so dass nichts mehr zu erkennen war. Seine Eltern fielen der Vergessenheit anheim. Fielen mit dem ganzen Unternehmen in ein Gedächtnisloch, und das Schweigen legte sich voller Erleichterung auf alles, was das Schweigen abdecken konnte, alles bis auf die Gesichter, Gesichter wie stoische Krater, in denen sich Gewissensbisse verstecken ließen. Anders als Lennys Ma und Pa taumelten hier noch frischgebackene Exkommunisten herum, und man wagte besser nicht anzudeuten, was man über ihre bisherigen Zugehörigkeiten wusste – Zugehörigkeiten, die zwei Jahrzehnte lang gehalten hatten und über Nacht aufgekündigt worden waren. Lenny
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