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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Gänsefüßchen gehörte. Nur Miriam hörte ihm richtig zu, wusste, was es zu bedeuten hatte und dass es wichtig war, und der mangelnde dialektische Kontext erlaubte ihr, ihn anzuherrschen, den Schnabel zu halten.
    »Mich regt einfach diese Naivität auf«, sagte Lenny und wusste, dass er eingeschnappt war. Er hatte Gesinnungsgenossen gesucht, Trost für die Farce in Sheas Büro, aber war die Sache der Revolution des Proletariats hier im White Horse weniger tot als in jenem Büro? Wahrscheinlich nicht.
    »Ich höre und gehorche«, sagte er, stand auf, drückte die Aktentasche an die Brust, ein römischer Schild, mit dem er sich wappnete, um im zunehmenden Gedränge des Pubs den Ausgang zu erreichen. »Ich kehre in die Heimat zurück, zum Trost meines Armenbetts und zu dem Orangensaft und den gebutterten Brötchen des Morgens. Gedenketmeiner, wenn ich fort bin. Die Bekenntnisse von uns Todgeweihten äußern sich als Lippenfurz.« Die Spule im Karton ließ Lenny liegen, ein verlassenes Rettungsfloß im Schiffbruch der Bierpfützen.
    »Bis denne, Vetter Lenny. Tut mir leid, dass der Song bei den hohen Tieren nicht angekommen ist.« (dum, dum, dum)
    —
    Lenin Angrush war acht Jahre alt, als ihm das gewickelte Mädchen in die Arme gelegt wurde. Für ihn war das gestern gewesen. Lennys Ma und Kusine Rose hielten in der Nähe Wacht, klirrten mit Teetassen und tratschten. Als Erwachsener sagte er sich, dass sie sich wahrscheinlich nur soweit zurückgezogen hatten, dass sie dem Jungen, der sich die Hände hatte waschen und Sanftheit geloben müssen, das Baby notfalls mit einer raschen Geste hätten wegnehmen könnten. Aber als das Bündel in Lennys Schoß gebettet und fortan zwischen seinen übereinandergeschlagenen Beinen gewiegt wurde, war ihm, als klirrten die Teetassen an einem fernen Ufer – Lenny und Miriam waren auf einer Insel für sich, so fühlte es sich für ihn an. Lennys Aufmerksamkeit war auf seinen Blickkontakt mit dem kleinen Mädchen geschrumpft. Auf das Braun ihrer Augen. Die Speichelbläschen in ihren Mundwinkeln. Das Licht, das ihre Gegenwart in seine warf. Miriam beschwichtigte das Unglück, das der achtjährige Lenin Angrush bisher immer als Wurzel seiner selbst eingeordnet hatte, das aber beschwichtigt werden konnte, wie er jetzt an ihrer Wirkung auf ihn erkannte, ein stürmisches Meer der Unruhe, in der er lebte, die er aber nicht war. Zumindest nicht, wenn er sich an dieses Mädchen klammerte und wenn sie zusammen ihre Insel erreichen konnten. Die fernen Stimmen waren gleichwohl zu verstehen.
    »Bei ihm ist sie ruhig.«
    »Und er bei ihr. Oj, dieser Junge. Er kann einem das Ohr abkauen.«
    »Dann haben ja beide einen guten Einfluss aufeinander.«
    »In ein paar Jahren hast du da einen guten Babysitter.«
    »Ich brauch eher eine Amme. Ich glaube, sie will mir die Brustwarzen abbeißen. Ich kann zwar keine Zähne sehen, aber ich könnte schwören, sie hat schon welche.«
    Eine Kusine konnte deine Kusine sein, etwas, das endlich dir gehörte, auch wenn sie dein Gefühl der Isolation zuspitzte. Deine Familie war ein Feld der Nacht, vor dem du dich als Umriss ausmachen konntest. Kusine Rose war schon Idol und Vexierbild deiner Eltern, seit sie den unmöglichen Deutschen geheiratet hatte und damit den Standard der klassenlosen Zukunft verkörperte – Lennys Ma und Pa glaubten vielleicht an den Kommunismus, aber Rose war die von der Partei erschaffene Neue Frau, unversöhnlich von Natur aus und berauschend in ihren Ansprüchen, ihren abrupten Ausbrüchen und ihren stürmischen Ausgrenzungen. Kusine Rose, die mit einem Schraubenzieher die Mesusa vom Türpfosten entfernt und dabei Furchen im Holz und Kratzer in der Farbe hinterlassen hatte. Lenny hatte später das Gebüsch durchsucht und sie aufbewahrt, den seltsamen Beweis von Roses Feindseligkeit, ihren eisernen Willen, mit dem zur Verfügung stehenden Werkzeug Neues zu erschaffen. Er bewahrte die Mesusa bei seinen anderen Schätzen auf, Glasmurmeln und einem nicht explodierten Böller, den er unter der Hochbahn gefunden hatte, Aladin-Sachen, die man polieren musste, bis ein Dschinn erschien.
    Jetzt hatten Kusine Rose und ihr Deutscher dieses Baby gemacht. Und dieses Baby war ihm in die Arme gelegt worden. Dass auch seine neue Kusine ein Mädchen war, sollte Lenny schon bald mit eigenen Augen sehen. Sie konnten nicht ewig in seiner Nähe bleiben, nicht Frauen wie Rose und seine Ma, die über den Daily Worker herzogen, während sie ein Rezept

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