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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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unwahrscheinlichen Sieg nach Hause zu tragen, einerseits gegen die Chance abwägen, dass Stone und Matusevitch in derselben Runde patzen, was es bisher noch nie gegeben hat, andererseits gegen die Tatsache, dass es auch nicht gerade schaden würde, mit einem Scheck über zweihundert Dollar nach Hause zu kommen, und an diesem Punkt des Gedankengangs überkommt sie brennende Sehnsucht nach ihrem Sohn, sie hört seine Stimme und sieht vor sich die blonden, tränenfeuchten Haare an seinen Schläfen kleben. Um den Preis, eine Stunde lang nicht an Sergius gedacht zu haben, hat sich heute wieder einmal erwiesen, dass eine Stunde ausgesetzteSorge und Mutterliebe sich in ihrem Kreislauf Bahn brechen, als hätte ein ihr unbekanntes inneres Organ Risse erlitten.
    Das befristete Aussteigen aus der gefühlsduseligen Sphäre des Mutterlebens, wonach sich Miriam so sehnt, kann es nur in den Extremzuständen von Triumphen oder Niederlagen geben. Wie bei der Festnahme auf der Treppe zum Kapitol und dem Tag in der Gefängniszelle, auch das ein Tag von Triumph und Niederlage, ohne Zwischenstufen. Sergius in der Obhut von Tommy und Rose, die ihn beide nicht so fachgerecht windeln konnten wie Stella Kim, spielte keine Rolle. Die Extremsituation der gerechten Sache, die Demütigungen der Fleischwurst-Sandwiches, hatten Miriam vor Schuldgefühlen bewahrt. Dieses katastrophische Prinzip könnte Miriam soweit motivieren, dass sie ihr gesamtes Guthaben setzt, hier mit etwas Eindeutigerem rausgeht und die mediokre Mitte vermeidet, in der zu viel Leben gelebt wird, in der das Kind darauf wartet, dass sie, in der Subway zusammengesackt, nach Hause kommt und es aus der Kommune der Carmine Street errettet, wo es wahrscheinlich unter die Räder gekommen ist und verwirrt und bedürftig an Stella Kims Rockschößen hängt, während die in einem Pott rührt, Pot raucht oder telefoniert.
    Miriam geht auf Nummer sicher, setzt fünfzig bei 1 : 1 auf »Was«, und Art James liest ab: »Unter den Rechtsordnungen, die Moses vom Berg Sinai mitbrachte, findet sich eine Sprichwort gewordene Wendung, die das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit anhand von Körperteilen veranschaulicht. Wie lautet diese Wendung?«
    »Auge um Auge, Zahn um Zahn?« Miriam antwortet in Frageform, nicht aus Unsicherheit, sondern weil alle Schärfe von ihr abfällt und sie wieder mit den Konventionen der Quizshow verschmilzt, die zu ihrer üblichen Form zurückfindet, zu dem Drehbuch, das ihr als passiver Konsumentin in Fleisch und Blut übergegangen ist – und das in diesem Fall besagt, Bescheidenheit und Unsicherheit seitens einer Kandidatin gewährleisten bei einer klar auf der Hand liegenden Antwort Art James’ Billigung und damit Punkte. Sie ist die Mutter und Hausfrau und ist dritte geworden, was im Wettstreit gegen zwei Männerkeine Schande ist. Das Ende der Show ist ein kleiner Tod, überdeckt von Applaus und Preisen, und Miriam kann es inzwischen gar nicht mehr fassen, dass Art James und sein Stab pro Nachmittag mehr als eine solche Folge verkraften. Der Buchhalter, dieser Emporkömmling, hat den eleganten Peter Matusevitch letztlich entmachtet und ihm die Auszeichnung des Wochenchampions entzogen, und dabei hat er nicht nur seinen Vorsprung verteidigt, sondern auch den Status Quo, gegen verdächtig nach Blumenkind aussehende Werbefuzzis, die zu leise sprechen, eine fast schon sinnliche Stimme haben und sich ausdrücken, als müssten sie wildgewordene Polizisten bei einer Antikriegsdemo beschwichtigen. Graham Stone ist mit der leichten Verkleidung seines Schamhaartoupets hier angekommen, aber sein Anzug und der von diesem verratene Bauchumfang sowie die über den Ohren gestutzten Haare und die bellende Herzlichkeit seiner Stimme haben gemeinsam sein Recht proklamiert, hier und heute den Sieg davonzutragen. Peter Matusevitch entpuppt sich am Ende auch bloß als ein dürrer Hippie mit langen Haaren über den Ohren, dessen Kragen niemanden täuscht, und das Drehbuch der Show ist ein in die Länge gezogener Verweis an seine Adresse – denn am Ende vergurkt er das Bibelzitat, während der Buchhalter seins mit links schafft. Miriam ist ihrerseits total hinüber, treibt völlig ungebunden von der Bühne, als sich ihre letzten Hoffnungen in Luft auf lösen, sitzt in Gedanken schon halb in der Subway und ruckelt durch die Tunnel der Stadt, um ihren Sohn zu retten, und jetzt hat sie das Gefühl, nicht nur Sergius enttäuscht zu haben, sondern auch den trauernden Mann mit dem

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