Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Man lebt überall zu dritt in Wohnungen. Bei meinen Eltern waren wir zu sechst.« Was sie nicht dazusagte, war, dass Babys nicht in Wohnungen aufwuchsen, sondern in Wohn blocks. In Nachbarschaften. Babys wurden für eine oder drei, vier Stunden einen Stock höher abgegeben – in Roses Verständnis gediehen Babys in der Nähe anderer Babys und ihrer Mütter, in Räumen mit einem ständigen Kommen und Gehen von Tanten und Kusinen, Küchen, in denen Streitigkeiten auf loderten, die das Radio übertönten. Wer sollte einem auf einer Farm in New Jersey denn beibringen, wie man Windeln auskochte? Besser noch, wer kochte sie für einen aus?
Die Stadt blieb hinter ihnen zurück, und die Bäume pfiffen vorbei, ein Blättertunnel ins Unverständnis einer Phantasiewelt.
»Wenn du die Neue Welt entdecken willst, dann reicht eine Karte von New Jersey nicht aus, Albert.«
»Was hast du gegen New Jersey?«
»Die Millionen, die nach New York kommen, haben entweder genug Grips, um sich in der großartigsten Stadt der Welt nicht mehr vom Fleck zu rühren, oder sie sind so dämlich und mutig, dass sie sich Planwagen besorgen und in ein Eden jenseits des Horizonts aufbrechen, irgendwelche Orte mit Indianernamen wie Dakota oder Oklahoma. Oder gleich nach Hollywood, ein Paradies, das es wert ist, dass man dafür quer durch den Kontinent stapft. Ein Ort, der es wert ist, dass unterwegs ein paar Leute aufgefressen werden. Lass dich doch in der Sonne korrumpieren wie Ben Hecht. Aber New York City den Rücken zu kehren und es dann nur bis New Jersey zu schaffen, ist ein Armutszeugnis der Phantasie, wie es so schön heißt.«
Wenn sie den Mund einmal aufgemacht hatte, bekam sie ihn nicht mehr zu, merkte Rose wieder einmal. Nach dem ersten Ehejahr stellte sich heraus, dass ihr Schweigen ein Verfallsdatum hatte wie ein Päckchen Butter. Manchmal wunderte sie sich über sich selbst, wie andere sich schon immer über sie gewundert hatten: Oj! Wo hat die dritte Angrush-Schwester bloß dieses fershlugginer Mundwerk her? Wo hat dieses Mädchen bloß die Worte gehört, mit denen es seine Eltern beschimpft? Ist sie überhaupt aufzuhalten?
Sie war nicht aufzuhalten. Seit der Zeit, da Rose lesen und reden gelernt hatte, hatte sie den Wortschatz zusammengetragen, mit dem sie die Einstellungen ihrer Mutter nicht mit Achselzucken und Klagen belebte, nicht indem sie die Hände rang oder sich an den Schläfen die Haare ausriss, sondern mit Geißelungen der englischen Sprache. Und als sie sich dann bei kommunistischen Zusammenkünften einfand, wo der neue Diskussionsstil von jungen Menschen umgesetzt wurde, die sich in Herkunft und Temperament nicht von ihr unterschieden und von denen einige sogar Mund und Hirn über einem Körper mit Brüsten und Vagina mitbrachten – Warum auch nicht? Schrie die Geschichte nicht nach ihrer Ankunft? –, als sie sich bei solchen Zusammenkünften einfand, verstärkte sich Roses Stimme noch. Sie staunte selbst über sich, auch wenn sie nie zugegeben hätte, dass sie sich für ein Wunder hielt. Es war einfach richtig, Rose Angrush zu sein. RoseZimmer zu sein, war genauso richtig. Die Geschichte hatte ihre Existenz verfügt. Und nach einem Jahr töricht angstvollen Schweigens entdeckte sie, dass auch die Ehe eine hochdialektische Angelegenheit war.
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Als sie in den Jersey Homesteads ankamen, verbesserte sich Roses Einschätzung ihrer Aussichten in einem Sinn und verschlechterte sich in einem anderen. Die Anlage entsprach nicht gerade ihren Erwartungen barfüßiger Juden mit Gesichtern wie auf den Fotos aus der Dust Bowl der dreißiger Jahre. Albert und sie wurden von den beiden Organisatoren geradezu fürstlich empfangen; beide gehörten offenbar zur Genossensorte herumwuselnder Speichellecker und begrüßten sie an einem einstöckigen Betonbau, der sich in nichts von seinen vielen Nachbarn unterschied und den Albert nur mit einigen Schwierigkeiten gefunden hatte. Als er den Wagen geparkt hatte, dirigierten die beiden – der eine namens Irgendwas Samanowitz mit einem Sonnenbrand auf der kahlen Stelle und im Overall, ein jüdischer Farmer wie aus einer Karikatur im New Yorker, der andere namens Daniel Ostrow, in einem schwarzen Anzug mit dünner Krawatte schwitzend, ein roter Angestellter, wie er einem an der Tür Broschüren aufdrängte, die man nie lesen würde, aber nicht ablehnen konnte – Rose und Albert als erstes in die Textilfabrik, die Fertigungshalle. Wenn man hier blinzelte und die sonnengefleckten
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