Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
freizuschaufeln, türmte sich der Schnee auf, als wollte er den Wagen gleich unter sich begraben. Sie eilten ins Haus, um die Finger wieder aufzutauen. Gary Davis saß in der ehrwürdigen Pose einer Holzstatue auf seinem Stuhl, abgesehen von der Hektik seiner Verzierungen und dem Taktklopfen seines rechten Fußes. Er trug auch drinnen eine Sonnenbrille, denn er war blind, und wahrscheinlich nahm er sie drinnen wie draußen überhaupt nie ab.
Dieses Allerheiligste der Wärme und des Kaffeedufts zu betreten, unerwartet fern von Manhattan und an einem Tag, an dem alle Grenzen zwischen Nacht und Tag, Bordstein und Pflaster, Dach und Himmel im Weiß unkenntlich wurden, war eine erhabene Erfahrung. Erstaunlich für Tommy, den ewigen Seemann, der sich ans Ufer klammert, den Exilanten, der kein Wanderer war, die Maus im Labyrinth von Greenwich Village, dessen Ausgang er nicht einmal suchte. Sie saß mit der Frau des Reverends und noch ein paar Negerfrauen am Küchentisch – Tommy war ziemlich sicher, dass in der Küche noch ein paar Negerinnen gesessen hatten, gekleidet wie jüngere Versionen von Missus Annie, wie sie ihm vorgestellt wurde. Vielleicht Töchter. Vor ihnen hatte ein anderer Weißer dem Reverend seine Aufwartung gemacht und saß gedankenverloren mit seiner Gitarre auf dem Sofa gegenüber vom Reverend. Tommy erkannte ihn, Barry Kornfeld, eigentlich ein Banjospieler, soweit er wusste. Es versetzte ihm einen Stich, sich wegen seiner Verspätung im Wohnzimmer des Reverends so ausgeschlossen zu fühlen wie im ganzen Leben, noch bevor er Miriam sah und sie eifersüchtig für Kornfelds Freundin hielt. Sie stand nicht sofort auf, winkte aber freundlich und übermütig, als Van Ronk in der Diele den Schnee von den Stiefeln stampfte, der kernige Gruß von jemandem, der seinem Kumpel zwei U-Bahnsteige weiter an der West Fourth Street etwas zuruft.
Kornfeld war nicht ihr Freund. Oder nicht mehr. Tommy fragteMiriam nie nach früheren Beziehungen aus, schon gar nicht nach Sängern oder Gitarristen, die ihm vorangegangen sein mochten. Sie war zwanzig Jahre alt – okay, fast zwanzig, korrigierte sie später –, kannte sich in der MacDougal Street aus und hatte ein Diaphragma in der Handtasche, bis sie dann eine der ersten Kundinnen der Pille werden konnte. Ihre gesamte Vorgeschichte war wie weggeblasen, genau wie seine, und wenn nicht, interessierte sie ihn nicht.
Wie sie ihm bald darauf selbst erzählte, war sie eine Vertraute von sowohl Phil Ochs als auch Mary Travers, arbeitete im Conrad Shop an der MacDougal, Ecke Third, durchstach den Kunden die Ohren von Hand mit einer Sicherheitsnadel, wobei sie die Ohrläppchen eines nach dem anderen mit einem Eiswürfel betäubte. (Da er ihre Telefonnummer nicht hatte, musste er in das Schmuckgeschäft gehen, um sie wiederzusehen.) Er sollte von Rose hören, der Roten Bürgermeisterin von Sunnyside, und von Albert, dem Spion. Jetzt wünschte er sich, noch einmal zu erleben, wie sie damals in das Wohnzimmer gekommen war.
Der Reverend hatte ein Arrangement von »Sportin’ Life Blues« ganz langsam gespielt, damit die jungen Männer mitkamen.
Jemand stellte Tommy verlegen eine Untertasse mit einem Stück frischen Kaffee-Streuselkuchen auf die Knie.
Gezupfte Töne stiegen zu den beschlagenen Fensterscheiben und dahinter in den kalten Himmel empor.
Er hätte zu gern den Augenblick festgehalten, in dem sie von ihrem Platz am Tisch bei der Frau des Reverends aufgestanden und in das Wohnzimmer gekommen war, wo die Männer saßen. Diesen Augenblick festgehalten und versucht, ihr Gesicht so zu sehen, wie er es das erste Mal gesehen hatte. Gewusst, wie es sein könnte, ihr in die Augen gesehen zu haben, bevor sie zu sprechen begann.
—
Noch bevor er sich über irgendetwas klargeworden war, hatte sie schon ihre Sonnenbrille aufgesetzt, dunkle Wayfarers, womit sie im blassenGleißen des Sturms gut beraten war. Wenn er in Richtung ihrer Augen blickte, sah er daher nur, wie die dicken Schneeflocken gegen den dunklen Windschutz unter ihrer unbedeckten rabenschwarzen Mähne stoben – auf deren von einer Perlmuttspange gebändigten Wirrsträhnigkeit sich ganz außen, wo ihre Körperwärme es nicht schmelzen ließ, ein Schneehäubchen bildete, und ganze Klümpchen setzten sich auf den Schultern fest und vorne an dem rauhen, schweren Mantel mit Schachbrettmuster. Darunter sah man nur ihre Beine in den schwarzen Strumpfhosen, denn ihr Rock war kürzer als der Mantelsaum. Da die
Weitere Kostenlose Bücher