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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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denen er je begegnet war. In diesem Augenblick, in den Gefühlsfluten des Marihuanas, wollte er einfach den Song hören, der eine Renitenz gegen seine Brüder verschlüsselte, die er vor dessen Ablehnung gar nicht gekostet hatte. Nach der ersten Instrumentalpassage sang er daher auf Teufel komm raus den ganzen Text.
    »Das ist der erste, ja?«
    »Ja – ja.«
    »Dann spiel mir mal den zweiten.«
    Sie beugte sich vor und ließ sich keinen Ton entgehen. Fast wünschte er sich, ihr würde etwas entgehen, sie würde sich abwenden. Sie hatte die Wayfarers jetzt abgenommen, was zur Folge hatte, dass er ihr nicht in die Augen sehen konnte. Ihre Aufmerksamkeit war für ihn eine herrliche Flasche gewesen, in die er gern hineingeschlüpft wäre, um sich dann aufzurichten wie ein Buddelschiff, die Segel gerefft, bis sie dann hochkamen und alle Ecken ausfüllten. Stattdessen fühlte er sich wie ein Glühwürmchen, das nur hineingeholt wurde, um verschluckt zu werden, vom ungerührten Glas abprallte und ein winziges bisschen glühte, um drinnen nicht verlorenzugehen.
    Hätte der Joint sie nicht ablenken sollen? Hatte er nicht. Die Welt schloss sich um sie, sie befanden sich im Auge des Sturms, und hinter den Fenstern war es stockdunkel geworden. Hatte sich Tommy erst kaum vorstellen können, dass Peter auch nur eine weitere Minute wegbleiben könnte, so redete er sich jetzt wild entschlossen ein, dass sein Bruder an der Bar des McSorley’s oder im Spur Wurzeln geschlagen hatte und die Nacht auf oder neben einer Kneipenbank überstehen würde. Oder hatte Tommy ein Konzert vergessen? Das war zwar fast ausgeschlossen, machte ihm aber doch Angst. Dann sagte er sich, dass jedes Konzert in diesem Blizzard abgesagt würde. Wenn Tommy sein Spiel unterbrach, redete Miriam Zimmer weiter, und er sog ihre Worte begierig auf und verstand kein einziges, ganz benebelt von innerem Gemurmel, mal eitel, mal geißelnd, mal fragend. Die Schwierigkeit bei der Wahrnehmung eines anderen Menschen war, dass man dabei sich selbst im Weg stand. Wenn die Grenzen der Selbsteinmauerung niedergerissen wurden, wie Miriam das gerade bei Tommy gemacht hatte, geriet man in einen Sumpf der Selbstwahrnehmung.
    »Für einen Iren singst du ganz schön viel über Schwarze.«
    Er hatte gerade eine schwache Version von »Sharpeville Massacre« abgespult. Je mehr es in seinem kleinen Repertoire ans Eingemachte ging, desto mehr wurde dieses Privatkonzert zu einem flehentlichen Vorsingen. Falls sie ihn mit ihrer Bemerkung provozieren wollte, war das ihrem Gesichtsausdruck nicht anzumerken. Er wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte, nicht in ihrer Sprache. Und eine andere besaß er nicht mehr.
    »Ist es dir unangenehm, wenn ich das sage? Soll ich lieber ›Neger‹ sagen?«
    »Wahrscheinlich sing ich wirklich viel über sie«, brachte er heraus. »Vielleicht einfach, um Rye zu ärgern.«
    »Südafrika, Haiti, Mississippi – Mensch, Tom, bist du eigentlich mal irgendwo davon gewesen?«
    »Du bist nicht die erste, die das moniert, und ich habe nichts zu meinerVerteidigung vorzubringen. Ich schreibe Songs, indem ich Schlagzeilen plündere.«
    »Du solltest mal in die Südstaaten fahren, ich hab mir sagen lassen, das hältst du im Kopf nicht aus.«
    »Das hab ich auch schon gedacht, aber Bardentrios sind da unten nicht gerade gefragt.«
    »Ich meinte auch ohne deine Brüder.«
    »Ach so. Ja, sollte ich vielleicht. Aber Peter hält uns auf Trab. Da gibt’s kaum je eine Pause.«
    »Da fehlen Stimmen, Tom.«
    »Wo?«
    »In deinen Songs.« Sie klang weder tadelnd noch schonend, sondern brachte die Dinge einfach nur auf den Punkt, wie man einen Ziegelstein auf eine Mauer legt. Vielleicht hatte ihm beim Singen noch nie jemand richtig zugehört, nicht einmal er selbst. Seine Mutter hatte ihn Thomas genannt; sein Vater Sohn; seine Brüder Tommy. Niemand hatte ihn je Tom genannt.
    »Wir haben unsere eigenen Schwarzen – Neger«, sagte sie. »Ich meine, du musst doch nur die Treppe runtergehen .« Sie waren zwangsläufig über zusammengekauerte Figuren, die sich Nester im Schnee gebaut hatten, hinweggestiegen oder um sie herumgegangen, um die Schwelle von Peters Haus zu erreichen. Die Männer, die die Bowery übersäten, waren per definitionem schwarz (in diesem Augenblick beschloss er, ihre Wortwahl zu übernehmen), egal welche Hautfarbe sie hatten. Die Verachtung machte sie schwarz, sie trugen schwarze Lumpen, lagen im Schatten. Tommy übersah sie nach Möglichkeit.
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