Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
zwang er sich, sie zu sehen, an ihrem blendenden Zauber vorbeizusehen, an ihrem Schmuck und ihrer Aura, den Reifen, die an ihren Armen klirrten, wenn sie eine Hand bewegte, dem zerknitterten Faltenrock und dünnen Rollkragenpullover des Beatniks, dem Rabengeschnatter ihrer Haarpracht, und sah ihr in die haselnussbraunen Augen unter den buschigen Brauen, betrachtete den Schwung ihrer vollen Lippen, die, wenn sie mal Ruhe fanden, immer so allumfassend undanspielungsreich lächelten, dass ihr Adressat jede Urteilskraft verlor: Die Verheißung, die in den Blicken dieser Frau lag, erfüllte ihn gleichzeitig mit Verbitterung und Vergebung. Und dann ihre Nase, so breit und geschwungen, dass sie der Karikatur jüdischer Nasen glich. Er erwartete fast, sie würde abheben, als die Sonnenbrille verschwand. Diese Proletennase blieb unverzaubert von allem sie umgebenden Zauber, ein Klecks Menschlichkeit.
»Komm, wir kochen ihnen eine Kanne Kaffee.«
»Wem?«
»Den Männern da unten, wenn sie nicht schon zu Statuen gefroren sind. Komm schon.« Sie sprang auf und löffelte Pulver in die Kaffeemaschine seines Bruders.
»Und wie willst du ihn ausschenken?«
»Wir nehmen Tassen mit runter und sammeln sie hinterher wieder ein.«
»Wir können nicht an alle Kaffee ausgeben.«
»Hat doch auch keiner gesagt.« Sie stöberte in Spüle und Küchenschrank. »Wie wär’s, wenn wir vier bewirten? Dass Männer aber auch immer so wenig Porzellan haben. Ihr erwartet nie mehr als zwei Leute, die über Nacht bleiben, was?«
Er gaffte sie sprachlos an.
»Mehr habt ihr nicht?« Sie zog ihren Mantel an und schob Becher in die beiden großen Außentaschen.
»Hier«, sagte er, trat kurz ins Bad und holte Peters Rasierschale aus Meerschaum vom Bord über dem Waschbecken. Den Rasierpinsel nahm er heraus und wusch die Schale aus. »Fünf.«
Miriam machte Stielaugen, als sie den Bart und den finsteren Blick der Meerschaumschale sah. »Heilige Scheiße, soviel zu grausigen Klischees. Ihr seid der letzte Haushalt, wo ich irischen Leprechaun-Tchotchkes erwartet hätte.«
»Das ist kein Leprechaun. Das ist der Grüne Mann.«
»Das ist doch dasselbe in Grün.«
Tommy und Miriam zogen die Schuhe wieder an, die noch nichtgetrocknet waren, vom Dünsten auf dem Heizkörper aber müffelten, und brachten den frischgebrühten Kaffee und die fünf Tassen die zwei Stockwerke nach unten in den abflauenden Schneesturm hinaus. Inzwischen war es fast windstill, und die knisternde weiße Hand breitete unter Straßenlaternen eine Decke über die Konturen der Welt, jeden Sims und jede Schwelle, Gottes reglose Windschutzscheiben und vulkanische Mülltonnen. Bewegung zeigten einzig die Menschen, die sich vorbeikämpften, die Knie aus ihren Höhlen streckten, sich in die fingerlosen Handschuhe bliesen. Miriam fand ihre fünf, die sich im Eingang einer Notschlafstelle zusammenkauerten. Sie verteilte Tassen, schenkte die erste Runde aus und stellte die Kanne dann in eine kleine Schneewehe zu ihren Füßen, in die sie sich eine Vertiefung schmolz. Der Grüne Mann wurde einem schwarzen Obdachlosen mit ledrigen, narbigen Wangen und eiskalten, maisgelben Augen in die wunden Hände gedrückt.
»Schenkt euch nach, es ist genug da. Wir kommen in einer Viertelstunde zurück und sammeln das Geschirr ein, meine Herren.«
Sie zog ihn am Ellenbogen, und in den Fußstapfen anderer stiefelten sie zur Houston. »Komm, wir lassen uns tätowieren.«
»Ich glaub nicht, dass die offen sind.«
»War nur ’n Scherz. Guck mal, da oben malt Rothko.«
»Wolltest du mir das zeigen?« Pollock, Kline und de Kooning waren genau wie Dylan Thomas und Jack Kerouac Namen, die an Chimären im Village hafteten, die nur wenige Sekunden zuvor gesichtet worden waren und wieder einmal bewiesen, dass man zur großen Party zu spät gekommen war.
»Nein, was anderes.« Sie deutete über die breite Kreuzung der Houston hinweg. » Das ist die Bowery, da drüben.« Sie gestikulierte in der Luft.
»Versteh ich nicht.«
»Hatt ich auch nicht erwartet. Weißt du, warum die Bowery so heißt? Früher war hier das Ende von New York.« Sie lenkte seine Aufmerksamkeit in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Die Holländerhatten einen Fußweg, der zu den Farmen und in die Wälder führte. Hier war mal ein bower, eine riesige Gartenlaube.« Sie zeichnete sie in das Geflocke über ihnen. »Wenn man die Bowery hinter sich hatte, verließ man die Stadt und drang in die Wildnis ein.«
Tommy sah, was sie ihm
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