Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
zeigen wollte. Die geisterhafte Stadtlandschaft jenseits der Houston konnte wieder zur Wildnis werden, bevor der Schnee schmolz.
»Das wusst ich gar nicht, obwohl ich hier wohne.«
»Das weiß keiner«, prahlte sie.
»Da könnte man einen Song drüber schreiben.«
»Da könnte man einen tollen Song drüber schreiben.« Diese Worte flüsterte sie. Am liebsten hätte er sich ihren Mund mit seinem Schal ans Ohr gebunden, nur um in den Schluchten des nachlassenden Sturms wieder ihr elektrisierendes Wispern zu hören.
»Wenn man sich das mal überlegt, ist das wahrscheinlich der Grund, warum sich die Penner und die alten Seeleute hier zusammenscharen. Sie warten auf den Übergang, selbst wenn ihnen das nicht bewusst ist. Bitten um Eintritt wie in einer Erzählung von Kafka.«
»Ja.«
»Eintritt in die Gärten.«
»Ja. Zum Garten Eden.«
»Genau«, sagte sie. »Oder aber zur 14th Street in der Hoffnung auf einen Rabattfick.«
Nichts in der Pelican-Anthologie der Liebeslyrik hatte ihn auch nur entfernt darauf vorbereitet. Dass Tommy merkte, dass das Mädchen ihn schockieren und ins Schleudern bringen wollte, half ihm auch nicht weiter. Er war schockiert und ins Schleudern geraten. Sie war eine Kindfrau mit der gespenstischen, wilden Übernatürlichkeit einer Zehnjährigen, wie sie einen in öffentlichen Verkehrsmitteln an- und durch einen hindurchstarrten. Dabei mit der Selbstbeherrschung eines älteren Menschen, einer weltgewandten Zuschauerin. Die Mutter des Kindes im Bus. Die die Verpuppungsphase dazwischen, in der er steckengeblieben war, offenbar übersprungen hatte. Die große Schwester,die ich nie hatte. Die dreckige Vorhersehbarkeit des Ausdrucks war ihm peinlich. Und die Anmaßung des hatte. Würde er sie haben? Hatte er sie gehabt? (Rye hätte das natürlich verneint.) Nach diesem Sturm, der die Sonne ausgelöscht und die Uhr zerstört hatte, was sollte da geschehen? Hatte er sie ins Bett zu ziehen? Hieß Liebe auf den ersten Blick, dass man die Betreffende nicht mehr aus den Augen lassen durfte, wenn man sie einmal erblickt hatte?
»Du brauchst nicht so zu tun, als wärst du sonstwo, Tom. In Algerien. Oder dem Delta vom Mississippi. Ich mein, schau’s dir doch an, selbst der Reverend Gary Davis ist nach Queens gezogen. Die Männer da unten, die sind die Wirklichkeit. Diese ganze Scheiße umgibt uns doch.«
Diese Erklärung hatte sie auf der Treppe abgegeben, als sie bei den gestrandeten Existenzen, die sich im Eingang der Notschlafstelle zusammengekauert hatten, die Tassen und die Kaffeekanne eingesammelt hatten und wieder hochgekommen waren. Die Obdachlosen hatten den Kaffee ausgetrunken und die Tassen in stummer, niedergeschmetterter Dankbarkeit zurückgegeben, nur die Rasierschale aus Meerschaum hatte Miriam dem Stadtstreicher wieder in die rissige Hand gedrückt. »Den kannst du behalten, Kumpel. Der bringt Glück. Das ist Der Grüne Mann .« Er hatte die Lippen bewegt, aber bis auf das »Miss«, mit dem er Miriam anredete, war nichts zu hören gewesen.
»Wenn du mit denen richtig ins Gespräch kommst, erfährst du, dass sie die Träger vom Empire State Building genietet, nach der Ardennenoffensive das Verwundetenabzeichen bekommen oder in Hendersons Band Kornett gespielt haben. Die sind unter Garantie tausendmal interessanter als die dämlichen Schmonzetten, die du dir ausgedacht hast – daraus müsste irgendein Genie mal einen Song machen.«
Noch bevor Miriam Zimmer ihre Vision weiter ausmalen konnte, wurde sie von Peter Gogan plattgemacht, und die Schneematschspuren seiner nicht abgestreiften Stiefel zeichneten die Wege nach, auf denen er mit seiner Bierfahne argwöhnisch durch die Wohnung gelaufenwar. Ihm war der Zustand aufgefallen, in dem sie sie bei ihrer unvermittelten Inspiration zurückgelassen hatten; tropfende Kerzen, zentimeterhoch Wein in Saftgläsern, Jointrest im Aschenbecher.
»Jemand … hat … auf … meinem … Stühlchen … gesessen«, flüsterte Miriam.
»Das ist ja eine Überraschung, gutes Brüderchen«, sagte Peter. »Und ein schönes Wetter haben wir da erwischt, was? Jetzt erinnere dich mal an deine gute Kinderstube und stell mir deine Freundin vor.«
Während Tommy noch nach Worten suchte, drückte Miriam Peter die abgekühlte Kaffeekanne mit den Schneespuren in die Hand und zog dann wie bei einem Zaubertrick eine Kaffeetasse nach der anderen aus den Manteltaschen. Sie hatte kaum die Wohnung betreten und stellte die Tassen in eine Reihe auf das Regal
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