Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Arzt erscheint, sein Gesicht ist teilweise hinter einer Maske verborgen, sein Kittel braun von getrocknetem Blut. Er scheint ihre Nacktheit nicht zu bemerken und arbeitet wortlos und ohne Augenkontakt. Schließlich verbindet die Schwester die Wunde, gibt ihr ein Schmerzmittel und eine schmutzige Decke, unter der sie schlafen kann.
Die ganze Nacht über herrscht Lärm auf der hell erleuchteten Station. Immer mehr verletzte Soldaten werden eingeliefert, andere sterben und werden ohne viel Federlesens hinausgetragen, um Platz für die Lebenden zu machen. Das Provinzkrankenhaus verfügt nur über einen Operationssaal, deshalb werden Eingriffe, die sonst unter Vollnarkose vorgenommen werden, nur mit örtlicher Betäubung direkt auf der Station durchgeführt. Das Kissen, mit dem sich Filsan die Ohren zuhält, dämpft die Schreie und das Gebrüll der Menschen nicht, die ein paar Meter von ihr entfernt gerade einen Arm oder einen Fuß verlieren. Gegen vier Uhr morgens ist sie immer noch hellwach, ist beinahedem Wahnsinn nahe und ruft nach Wasser, wieder und wieder und wieder. Sie zieht den Vorhang auf und blinzelt ins Neonlicht; der Arzt, von einer Traube Schwestern umringt, streitet sich mit Lieutenant Hashi.
«Das ist ein Befehl von allerhöchster Ebene. Sie haben keine Wahl.»
Ungläubig hebt der Arzt die Hände und geht hinaus.
«Feigling!», faucht Hashi ihm nach. «Dann bleibt es an euch hängen, Schwestern. Tut eure Pflicht.» Er winkt eine Gruppe von zehn High-school-Schülern in Schuluniform und Handschellen auf die Station; die Jugendlichen schieben sich, von vier Polizisten flankiert, vorbei und bekommen von Hashi die Anweisung, den Schwestern in ein Wartezimmer zu folgen.
Draußen zwitschern Vögel in den Bäumen, aber Filsan kann vor Durst nicht schlafen. Vergeblich wartet sie darauf, dass die Schwestern wiederkommen. Schließlich schlurft der Krankenwärter, der sie hereingeführt hat, auf die Station, und sie hämmert auf das metallene Bettgestell, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Diesmal kann sie ihn genau betrachten: ein kahlköpfiger Mann, Mitte Dreißig, mit unterwürfigem, ängstlichem Gesichtsausdruck. Er wirft einen Blick über die Schulter, ehe er sich hinabbeugt und ihr die Hand auf den Oberarm legt. «Was ist los, Cousine?»
Sie zeigt auf ihren Hals und bringt ein krächzendes «Wasser» heraus.
Er massiert ihre Schulter auf eine vertrauliche Art, die ihr nicht gefällt. «Ich hol dir welches, aber du musst warten.»
«Warum?»
«In dem Zimmer da geht was Schlimmes vor sich.»
«Du kannst mir nicht mal ein Glas Wasser holen?»
«Neinneinnein. Ich will’s nicht sehen.»
«Was nicht sehen?», fragt Filsan aufgebracht.
«Die Kinder, sie bluten.»
«Sie spenden Blut, das ist alles.» Sie wundert sich über die Unwissenheit des Mannes. «Du musst dir keine Sorgen machen.»
«Nein, sie werden ausgeblutet. Der Soldat sagt, sie sollen wie Wasserhähne benutzt werden.»
«Hashi?»
«Genau der.»
«Wie Wasserhähne? Damit sie sterben?»
«Das ist die Absicht.»
Deqo wacht vom Gezänk zweier Straßenhunde auf, die einander anknurren. Sie reibt sich die Augen und gähnt laut und frustriert. Sie wird einen Eimer mit kaltem Wasser füllen, die Viecher verjagen und weiterschlafen. Wasser schwappt über den Eimerrand und auf den Hof, aber es reicht, um die Hunde zu verschrecken. Den Kopf gesenkt, beißt sich Deqo auf die Lippen, müht sich mit beiden Händen mit dem dünnen Henkel ab und bemerkt die auf dem Dach hockenden Geier erst, als ein Schatten über sie gleitet. Der Vogel lässt etwas neben sie fallen, und sie blickt auf den Boden. Ein Blatt? Ein zerknautschtes Stück Leder? Neugierig hebt sie das Ding auf. Ein menschliches Ohr. Sie wirft es weg, lässt den Eimer fallen und rennt zurück ins Haus. Die Geier kreisen noch eine Weile in der Luft, bevor sie sich auf dem Mangobaum niederlassen. Noch nie hat Deqo so viele von ihnen auf einmal gesehen, die Zweige wippen und biegen sich unter ihrem Gewicht.
Durch das Tor kommt ein weißer, muskulöser, braun gefleckter Hund, Blutstropfen hängen ihm wie Tau an den Schnauzhaaren, schnüffelnd folgt er der Spur, die ins Haus führt. Deqo schnappt sich den an der Wand lehnenden Besen und stürmt auf das Tier zu.
«Bax!
Aus! Aus!», schreit sie gellend und stößt dem Hund die Borsten in die rosa Nase.
Er bleibt wie angewurzelt stehen, kläfft ein paarmal und trottet wieder auf die Straße zurück. Sie verfolgt ihn und wirft ein paar Steine
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