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Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Titel: Der Garten der verlorenen Seelen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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nach ihm. «Bleib ja draußen.»
    Da entdeckt sie den Flüchtling: zerfetzt, blutüberströmt, aber immer noch elegant in Anzug und Krawatte. Deqo schlägt mit dem Besen gegen die Mauer, bis die Meute von ihrem Festmahl ablässt. Sie vermeidet es, ihm ins Gesicht zu sehen, und konzentriert sich auf die glänzenden schwarzen Slipper an seinen Füßen, die mit einer goldenen Gliederkette verziert sind. Hochzeitsschuhe, denkt sie. Die Hunde knurren vorUngeduld, halten aber Abstand. Der runde Bauch des Mannes lässt fast die Hemdknöpfe abspringen, und schon jetzt verströmt er diesen Geruch, süß und abstoßend zugleich. Deqo zieht ihm die Schuhe von den Füßen – sie sind zu gut in Schuss – und beginnt, mit dem Besengriff ein Loch in die sandige Erde zu graben. Neugierig beobachten die Hunde das Mädchen, halten sich aber fern. Deqo wird niemals ein so tiefes Loch graben können, dass die Tiere nicht doch an den Mann herankämen, aber zumindest kann sie ihm die Würde eines Begräbnisses verschaffen. Nach ungefähr 50 Zentimetern gibt sie auf, kniet sich hin und ruht sich aus. Als der Mann plötzlich von der Mauer ins Rutschen gerät, fällt ihr Blick zufällig auf sein Gesicht. Die Hunde haben ihm die Nase weggebissen, der linke Wangenknochen ragt aus dem Fleisch und ein Ohr fehlt. Der unversehrte Teil seines Gesichts ist das eines reichen Mittvierzigers, die Haut ist blass und faltenlos; der Typ Mann, der erst vor Kurzem aus Übersee zurückgekehrt ist und hier eine Frau finden, vielleicht mit dem ersparten Geld eine protzige Villa in der Nähe seiner Mutter bauen wollte.
    Deqo wirft den Besen weg, packt seinen Ledergürtel und versucht, ihn daran bis an den Rand der Grube zu zerren. Es ist, als wollte man einen Fels bewegen; erneut ruckt sie an dem Gürtel, aber der steife Körper bewegt sich nicht. Deqo steigt über den Mann, drückt mit Händen und dann mit den Füßen gegen seinen von Kugeln durchlöcherten Rücken; es kommt ihr wie eines der Spiele vor, das sie und Anab in Saba’ad so oft gespielt haben, die eine attackierte und die andere rollte sich zusammen und leistete Widerstand. Beim Gedanken, dass er sich nur tot stellt, muss sie kichern und drückt gegen seinen Hintern. Es hat keinen Zweck; als er noch lebte, war er mindestens doppelt so schwer wie sie, und jetzt kommt noch das träge Gewicht des Todes dazu. Aber Deqo hat gelernt, hartnäckig zu sein; es gibt kein Problem, für das sie mit ihren beschränkten Mitteln keine Lösung findet. Sie geht um ihn herum. Wie kriegt sie ihn wohl am besten ein paar Zentimeter näher zum Grab? Wenn sie doch bloß seinen Rumpf anheben und ihn so drehen könnte. Deqo schnappt sich den Besen, schiebt ihn unter den Mann und hebelt ihn hoch; langsam, langsam, langsam bewegt er sich undrollt dann auf den Bauch. Sie versucht es nochmals, und diesmal fällt er ins Grab.
    Schwitzend, an den Händen den Gestank verfaulenden Fleisches, fegt sie feinen Sand auf seinen Körper, bedeckt zuerst sein Gesicht, dann seinen Rumpf und schließlich seine langen Beine. Fertig. Von der rosa Bougainvillea zupft Deqo ein Blütenbüschel und steckt es dort, wo sein Kopf begraben ist, in den Sand. «Hier, bitte schön!», ruft sie aus.
    Paarweise werden die Leichen der Kinder aus dem Wartezimmer gerollt, ein Arm pendelt über den Rand der Liege, leblos und gelb wie ein Herbstblatt. Wie hypnotisiert beobachtet Filsan, wie die nahezu emotionslos wirkenden Schwestern in dem Krankenzimmer, wo Blut gespendet wird, ein und aus gehen. Sie hasten mit einem für die Patienten aufgesetzten Lächeln durch die Station, in ihren Händen scharlachrote Blutkonserven, die ganz offenbar für den Operationssaal gebraucht werden. Befehle befolgen. Befehle befolgen. Befehle befolgen. Das ist das Credo, mit dem sie alle aufgewachsen sind, und es hat Bestand, bis einem die Last der Schuld das Rückgrat bricht. Wahrscheinlich würde ihr Vater dieses Vorgehen als kriegsnotwendig bezeichnen, aber auf Filsan wirkt es wie das Verhalten der Kannibalen in den alten Sagen: völlig normal und doch unwiderruflich verkommen.
    Der Krankenwärter kehrt mit einem Glas Wasser zurück.
    «Sind sie da drin fertig?» Filsan deutet mit dem Kopf auf das Krankenzimmer.
    «Einer noch.»
    Sie trinkt in tiefen Schlucken.
    «Möge Allah ihren Seelen gnädig sein», sagt er, bevor er mit seiner Liege davonquietscht.
    Sie weiß nicht, ob er damit die Schüler oder die Krankenschwestern meint.
    Ihre Gedanken wandern zu dem letzten Kind

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