Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
kindische Propaganda ein?»
«Habe ich nicht, aber selbst wenn, gehören diese Ohren nicht mir? Hat Gott sie mir nicht gegeben und kann ich damit nicht machen, was ich will?» Kawsar schnippt mit den Fingern gegen ihr rechtes Ohrläppchen.
Die Schläge fallen rasch nacheinander. Der erste aufs Ohr, laut wie eine sich am Felsen brechende Welle, dann auf Schläfe, Wange, Hals. Als Kawsar Officer Adan Alis Hand umklammert, hören sie für einenAugenblick auf, setzen aber nach ein paar Herzschlägen wieder ein. Blick und Gehör verschwimmen, ein Schlag gegen die Brust schleudert sie vom Stuhl auf den Betonboden. Kawsar knallt mit der Hüfte auf, hört es unter sich knacken, und spürt dann, wie ihr der Schmerz wie ein anschwellender Fluss vom Magen bis in die Kehle steigt und ihr den Atem raubt. Sie stützt ihr Gewicht auf eine Hand, hebt abwehrend den anderen Arm, die Handfläche der Offizierin zugewandt. «Bitte aufhören!», weint sie.
Die junge Frau, selbst mit Tränen in den Augen, schüttelt den Kopf und verlässt hastig den Raum. Während sie den Korridor hinunterrennt, wird das Stampfen ihrer Stiefel leiser und verklingt.
Die allerkleinste Bewegung lässt Kawsars Nerven erzittern. Sie kann sich weder aufrichten, noch flach auf den Boden legen, sondern ist in dieser unglücklichen, verdrehten Position gefangen. Ihr dreht sich der Kopf; so heftig ist der durch ihren Körper pulsierende Schmerz, dass sie Galle schmeckt. Selbst wenn ihr jemand zu Hilfe käme, könnte sie unmöglich zulassen, dass man sie bewegt. Eine Kugel in den Hinterkopf wäre besser. Ihre Handflächen sind feucht, und sie rutscht über den Boden; auf dem weißen Beton sind Blutstropfen zu sehen. Kawsar leckt sich über die Oberlippe und schmeckt Blut; sie wischt sich die Nase, starrt auf ihre rote Hand.
Die Tür wird aufgerissen, und die Polizistin mit den blondierten Strähnchen und ein Mann hocken sich neben sie hin.
«Was, verdammt noch mal, hast du denn gesagt?», fragt die Polizistin und beugt sich über Kawsar.
«Fassen Sie mich bitte, bitte nicht an», schluchzt Kawsar.
Die Polizistin fasst ihr unter die Arme, und der Polizist nimmt sie bei den Fußgelenken.
«Meine Hüfte ist gebrochen, lassen Sie mich um Himmels willen wieder runter, bitte, bitte, lassen Sie mich wieder runter …» Ihre Worte werden zu Schreien, als sie hochgehoben wird.
Sie tragen Kawsar schlurfend aus dem Verhörraum und ein schwarzer Vorhang fällt über ihre Augen, alles Gefühl erlischt, alle Geräusche verstummen.
Aus dem schmalen Durchgang, in dem sie sich versteckt hat, linst Deqo auf die Menge, die sich vor dem Polizeirevier versammelt hat. Etwa zehn Frauen in roten Gewändern schreien auf einen Polizisten ein, noch mehr Polizisten treffen ein und die Frauen weichen zurück, schreien aber weiter. «Gebt sie uns heraus», hört sie eine sagen.
Ein Auto fährt vorbei, und eine der Frauen springt vor, schlägt auf die Windschutzscheibe ein, bis es anhält und der Fahrer aussteigt, um mit ihr zu reden. Als zwei junge Polizisten mit einer Trage auftauchen, auf der ausgestreckt eine Gestalt liegt, verstummen die Schreie.
Auf Zehenspitzen betritt Deqo die Straße; die Autos fahren langsamer, um das Spektakel in Augenschein zu nehmen, die Scheinwerfer tauchen das Gesicht der Frau auf der Trage ins Licht. Sie ist es.
Deqo stürmt über die Straße. Niemand scheint sie zu sehen, das ist offenbar ein Trick, den sie beherrscht, die Macht, unsichtbar zu werden. Sie wischt ihrer Retterin das Blut aus dem Gesicht und streichelt ihre Wange. Über ihren Kopf hinweg kreischen die Frauen, eine ältere Frau droht der Polizei mit dem Stock; zwei Polizisten fassen mit an und schieben die Trage in das wartende Auto.
Die Türen werden zugeschlagen, bevor Deqo mit hineinschlüpfen kann. Ein Quietschen, ein Knirschen und der Wagen fährt an, schleudert ihnen eine Rauchwolke ins Gesicht. Sie jagt den Rücklichtern durch die Dunkelheit hinterher, sieht an sich hinunter, geisterweiß schimmert ihre Kleidung, ihre Glieder sind ebenso bleich. Wie weit weg Saba’ad ist, wie aufregend ihr Leben geworden ist, in den paar Stunden, seit sie in Hargeisa ist, das begreift sie erst jetzt, und sie weiß, sie kann nicht zurück. Das Auto entfernt sich, sie wird schneller und schneller, das Auto biegt ab, und mit tauben Füßen folgt sie ihm. Der Wagen beschleunigt abermals, und Deqo hat Mühe mitzuhalten, ihr Herz hämmert gegen die Rippen. Sie hat den Blick auf die Lichter geheftet,
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